Science Fiction Almanach 1981
dachte sie, bitte, lieber Gott, nicht jetzt …
Der Schmerz war anders, irgendwie verändert, und sie war ein sehr junges Mädchen und lag im Bett. Mutter hatte die Bandagen um ihre Füße wieder enger gemacht, und die z u sammengequetschten, verzerrten Knochen schickten ihre eiskalte Botschaft durch ihren Körper. Das Gewicht der Se i dentücher auf dem Bett allein war eine besondere Folter.
Sie wollte weinen, schreien, wagte es aber nicht, sich zu beklagen. Wenn ich das tue, dachte sie, dann werden meine Füße einmal groß und häßlich sein wie bei einer Bäuerin, und kein Mann wird mich heiraten wollen, und ich werde eine Schande für meine Vorfahren sein.
Sie wälzte sich herum und versuchte, eine bequeme Ste l lung zu finden. „Göttin der Gnade, hilf mir“, flüsterte sie. Die Diener hatten süßen Tee und Melonenscheiben in einer Schale, auf die ein Drache gemalt war, gebracht; das Tablett stand unberührt an ihrem Bett. Letztes Jahr noch hatte sie so großen Appetit gehabt …
Letztes Jahr konnte ich mit meinen Brüdern rennen und spielen, dachte sie. Aber ich bin jetzt sieben, und es war an der Zeit, daß Mutter mir die Füße bandagiert hat. Sie we r den winzig sein, wie ihre, und kleine Seidenschuhe werde ich tragen. Schön werde ich sein; Diener werden mich übe r allhin tragen, und ein reicher Mann wird mich heiraten. Ich habe es gut; nie werde ich große, häßliche Füße haben.
Aber es tut weh. Oh, wie das weh tut. Ich kann nicht mehr essen und schlafen. Der Schmerz ist überall, er ist immer da. Habe ich mich aufgelehnt? Bin ich daran selbst schuld? Von dem Schmerz haben sie mir nichts erzählt!
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Armen und schluchzte in sich hinein. Sie hatte Angst, ihre Eltern würden sie hören.
Sie wagte es nicht, vor ihrem Sohn zu weinen; er würde d a von aufwachen. Sie war weder jung noch alt, aber müde. Sie saß in einem Graben am Rande der Straße in dem notdürft i gen Unterstand, den Kevin gebaut hatte, und schaute zu, wie der graue Regen auf die Felder fiel. Dieser Sommer war eine Heimsuchung Gottes. Es mußte so sein. Wozu aber? Wofür? Was hatte sie getan? Im letzten Jahr nichts Sündigeres als in irgendeinem anderen Jahr. Sie hatte gearbeitet, gebetet, im Feld gegraben, gekocht, geflickt, was an Kleidern da war, Kevin bedient, sich um Colin und das Baby gekümmert – aber in diesem Jahr regnete es, und mit dem Regen kam die Fäulnis, die die Kartoffeln im Boden vernichtete. Der G e ruch des Todes lag in der Luft. Die Kartoffeln faulten, und die Menschen verhungerten, und wer nicht verhungerte, wurde krank. Und noch immer regnete es.
Auf der Straße bewegte sich ein stetiger Menschenstrom, Menschen, die gingen, taumelten – wohin? Manche hatten sich zu Begräbnisversammlungen zusammengefunden. Sie trugen ihre Toten auf Brettern – Särge gab es keine mehr, und niemand war noch kräftig genug, neue zu bauen. Und zuviele Tote, viel zuviele Tote. Das Baby hatte keinen Sarg. Als bei ihr keine Milch mehr kam und sie keine Kuhmilch bekommen konnte, hungerte es zuerst und bekam dann das Fieber. Es lag, nur in einen Schal gewickelt, auf dem nac k ten Boden.
Auch ihr Haus war weg; keine Kartoffelernte, das hieß, kein Geld für die Miete, und der Grundherr brauchte das Land als Weideland; sie mußten zusehen, als sie die Wände einrissen. Jetzt schliefen sie im Straßengraben, in dem U n terstand, den Kevin gebaut hatte, und der Regen floß neben und unter ihnen.
Kevin war weggegangen, um nach Essen zu suchen. Es gab zwar keines, aber sie verstand sein Bedürfnis, etwas zu tun, es zu versuchen – obwohl auch er vor Hunger kaum gehen konnte.
Sie kauerte sich unter ihrem Schal zusammen und sah C o lin an. Sein Gesicht war rot, und sein Schlaf zu schwer. Sie hatte Angst um ihn. Für ein paar Pennies hätte sie den fre m den, harten gelben Mais von dem Händler, der alles hortete – möge er in der Hölle brennen – kaufen können, aber sie ha t te kein Geld, nicht einen Penny.
Colin wimmerte und schüttelte sich. Sie strich ihm das Haar glatt und drückte ihn an sich. Sie sang ihm ein Schla f lied, um ihn aus seinem Fiebertraum zurückzuführen. Wozu ihn aber zurückrufen, dachte sie, zu dem hier? Sie hörte auf zu singen, starrte auf die Straße und fragte sich, ob Kevin zurückkommen würde. Müde fing sie wieder an zu beten.
Sie war alt und kniete in einer düsteren grauen Kapelle. Die Decke wölbte sich hoch über ihrem Kopf, und die bunten
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