Scriptum
gerade dienlich sind. Weichen
den grundlegenden Problemen der Menschen aus. Tolerieren schändlichen Missbrauch, die Verfolgung Unschuldiger, schmieden sogar
Komplotte, um diese zu vertuschen. Wir finden uns nur langsam in einer veränderten Welt zurecht, und nun, da wir besonders
angreifbar sind, gerät alles aufs Neue in Gefahr, genau wie vor siebenhundert Jahren. Nur ist unser Bauwerk größer geworden,
als man es sich je erträumt hatte, und sein Zusammenbruch wäre eine Katastrophe.
Wenn wir die Kirche heute mit der neuen Geschichte des Jeshua von Nazareth gründeten, könnten wir sie vielleicht anders gestalten.
Wir könnten die verwirrenden Dogmen vermeiden und alles einfacher anlegen. Sehen Sie sich den Islam an. Genau das ist ihm
gelungen, keine siebenhundert Jahre nach der Kreuzigung. Ein Mann kam daher und sagte: ‹Es gibt keinen Gott außer Gott, und
Muhammad ist seinProphet.› Nicht der Messias, nicht der Sohn Gottes; kein Vater oder Heiliger Geist, keine komplizierte Dreifaltigkeit – nur
ein Bote Gottes. Das war alles. Und es war genug. Die Schlichtheit der Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ihre
Anhänger eroberten in weniger als hundert Jahren die halbe bekannte Welt, und es schmerzt mich, wenn ich daran denke, dass
der Islam heute die am schnellsten wachsende Weltreligion ist. Dabei findet er sich noch langsamer als wir mit den Gegebenheiten
und Bedürfnissen der modernen Zeit ab, was auch den Muslimen irgendwann Probleme bescheren wird. Aber wir waren ebenfalls
langsam, langsam und überheblich, und wir bezahlen heute dafür. Obwohl wir jetzt am dringendsten gebraucht werden.» Er blickte
Reilly an.
«Denn gebraucht werden wir, das ist sicher. Die Menschen brauchen uns, weil sie eben irgendetwas brauchen. Schauen Sie sich
um, überall Angst, Zorn, Gier, Korruption, die alles durchdringen. Schauen Sie sich das moralische Vakuum an, den geistigen
Hunger, den Mangel an Werten. Die Welt wird immer fatalistischer, zynischer und desillusionierter. Der Mensch ist gleichgültiger,
liebloser und selbstsüchtiger denn je. Wir stehlen und töten in nie gekanntem Ausmaß. Firmenskandale verschlingen Milliarden
von Dollar. Kriege werden grundlos vom Zaun gebrochen, Millionen bei Völkermorden getötet. Die Wissenschaft mag uns von Krankheiten
wie den Pocken befreit haben, dafür hat sie unseren Planeten zerstört und uns zu ungeduldigen, einsamen, gewalttätigen Wesen
gemacht. Wer Glück hat, mag ein wenig länger leben, aber ist unser Leben deshalb erfüllter oder friedlicher? Ist die Welt
wirklich
zivilisierter
als vor zweitausend Jahren?
Jahrhunderte zuvor wussten wir es nicht besser. Kaum jemand konnte lesen und schreiben. Doch welche Entschuldigung haben wir
in unserer so genannten aufgeklärten Zeit für ein so abgrundtief schändliches Benehmen? Der Intellekt mag sich weiterentwickelt
haben, aber die Seele ist dabei auf der Strecke geblieben; sie hat sich, wie ich behaupten möchte, sogar zurückgebildet. Wieder
und wieder hat der Mensch bewiesen, dass er im Grunde seines Herzens ein wildes Tier ist, und obwohl die Kirche predigt, dass
wir einer höheren Macht verpflichtet seien, verhalten wir uns dennoch abscheulich. Stellen Sie sich vor, wie es erst ohne
die Kirche wäre. Aber wir verlieren offenbar die Fähigkeit, die Menschen zu inspirieren. Wir sind nicht für die Menschen da,
die Kirche ist nicht mehr für sie da. Und wir müssen auch noch als Vorwand für Krieg und Blutvergießen herhalten. Wir bewegen
uns auf eine furchtbare geistige Krise zu, Agent Reilly. Diese Entdeckung könnte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt kommen.»
Brugnone verstummte und sah zu Reilly hinüber.
«Vielleicht ist es unvermeidlich», meinte dieser resigniert. «Vielleicht ist die Geschichte einfach zu Ende.»
«Mag sein, dass die Kirche eines langsamen Todes stirbt. Schließlich zerfallen alle Religionen irgendwann, und unsere hat
länger überdauert als die meisten. Doch eine plötzliche Enthüllung wie diese … Trotz aller Fehler ist die Kirche noch immer ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Millionen hilft der Glaube durch
den Alltag. Er spendet immer noch Trost, selbst denen, die vom Glauben abgefallen sind. Und letztlich schenkt uns der Glaube
etwas, das für uns lebenswichtig ist: Wir überwinden durch ihn die Urangst vor dem Tod und die Furcht vor dem, was nach dem
Grabkommen mag. Ohne den Glauben an einen auferstandenen
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