Scriptum
«Eines Menschen?»
Brugnone nickte düster, ein unsichtbares Gewicht schien auf seinen breiten Schultern zu lasten. «Laut seinem eigenen Evangelium
war Jeshua von Nazareth – oder Jesus – nicht der Sohn Gottes.»
Die Worte trafen Reilly mit voller Wucht in die Magengrube. Er hob die Hände in einer vagen Geste. «Und all das hier …?»
«All das», rief Brugnone aus, «ist das Beste, was der Mensch, der bloß sterbliche, verängstigte Mensch, erschaffen konnte.
Und er erschuf es mit den edelsten Absichten, das müssen Sie einfach glauben. Was hätten Sie denn getan? Was sollen wir Ihrer
Ansicht nach jetzt tun? Seit beinahe zweitausend Jahren hüten wir die Grundsätze, die den Menschen, die die Kirche gründeten,
so wichtig waren und an die wir bis heute glauben. Was immer diese Grundsätze bedrohte, musste unterdrückt werden, wir hatten
keine andere Wahl. Wir konnten die Menschen nicht im Stich lassen, weder damals noch jetzt. Heutzutage wäre es sogar noch
weitaus katastrophaler, wenn man ihnen sagte, dass alles …» Er konnte den Satz nicht vollenden.
«Eine Riesentäuschung ist?», schloss Reilly knapp.
«Ist es das denn wirklich? Was ist Religion anderes als der Glaube an etwas, das keiner Beweise bedarf, der Glaube an ein
Ideal? Und es war ein überaus würdiges Ideal. Wir müssen an etwas glauben. Wir alle brauchen den Glauben.»
Glauben.
Reilly bemühte sich, die Konsequenzen dessen zu erfassen, was Kardinal Brugnone ihm gerade erzählte. Ihm selbst hatte der
Glaube als Kind geholfen, mit dem furchtbaren Verlust seines Vaters fertig zu werden. Sein Glaube hatte ihn auch als Erwachsenen
geleitet. Und nun erfuhr er ausgerechnet hier, im Herzen der katholischen Kirche, dass alles nur eine Täuschung sein sollte?
«Wir brauchen aber auch Ehrlichkeit», konterte er wütend. «Wir brauchen Wahrheit.»
«Der Mensch braucht vor allem seinen Glauben und das mehr denn je», beharrte Brugnone. «Was wir haben, ist immer noch weitaus
besser, als gar keinen Glauben zu besitzen.»
«Der Glaube an eine Auferstehung, die es nie gegeben hat? Der Glaube an einen Himmel, der nicht existiert?»
«Agent Reilly, ich versichere Ihnen, viele anständige Menschen haben damit gerungen und sind alle zum gleichen Schluss gelangt:
Der Glaube muss erhalten bleiben. Die Alternative wäre einfach zu schrecklich.»
«Aber wir sprechen hier nicht über Jesu Worte und Lehren. Wir sprechen über Wunder und Auferstehung.»
Brugnone blieb ungerührt. «Das Christentum wurzelt nicht in den Lehren eines weisen Mannes. Es beruht auf etwas weitaus Bedeutsamerem
– den Worten von Gottes Sohn. Die Auferstehung ist mehr als ein Wunder, sie ist das Fundament der Kirche. Ohne sie bricht
alles zusammen. Denken Sie an den ersten Korintherbrief: ‹Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich,
so ist auch euer Glaube vergeblich.›»
«Die Gründer der Kirche haben diese Worte selbst ausgesucht», rief Reilly. «Die Religion soll uns doch helfen zu verstehen,
wozu wir hier auf Erden sind, oder? Wie sollen wir denn überhaupt etwas verstehen, wenn wir schon von falschen Voraussetzungen
ausgehen? Diese Lüge hat jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens verzerrt.»
Brugnone atmete seufzend aus und nickte. «Mag sein. Wenn alles heute anfinge und nicht vor zweitausend Jahren, hätten wir
es vielleicht anders lösen können. Aber wir fangen nicht heute an. Der Glaube besteht schon lange, er wurde uns überliefert,
und wir müssen ihn erhalten, alles andere wäreSelbstzerstörung. Und, wie ich befürchte, ein vernichtender Schlag für unsere zerbrechliche Welt.» Sein Blick war nicht mehr
auf Reilly, sondern in die Ferne gerichtet. «Von Anfang an haben wir uns in der Defensive befunden. Angesichts unserer Position
mag dies natürlich sein, aber es wird zunehmend schwieriger … Die moderne Wissenschaft und Philosophie bestärken die Menschen nicht gerade im Glauben. Zum Teil ist die Kirche selber
schuld daran. Seit Konstantin das frühe Christentum mit seinem politischen Scharfsinn vereinnahmte, hat es viel zu viele Schismen
und Auseinandersetzungen gegeben. Zu viel doktrinäre Kleinlichkeit, zu viel Betrug und geistigen Verfall, zu viel Gier. Die
ursprüngliche Botschaft Jesu wurde von Egoisten und Frömmlern pervertiert und durch kleinliche Rivalität und unnachgiebige
Fundamentalisten unterminiert. Und wir begehen nach wie vor Fehler, die unserer Sache nicht
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