Scriptum
Anbeginn der Zeit der Fluch der
menschlichen Existenz. Und das soll mich beunruhigen? Im Gegenteil, ich freue mich darauf. Ich freue mich darauf, Millionen
Menschen von einer erdrückenden Lüge zu befreien. Wir gehen nur einen natürlichen Schritt in der geistigen Weiterentwicklung
des Menschen. Dies ist der Beginn eines neuen Zeitalters.»
«Sie reden, als würde unsere Entdeckung mit Umzügen und Feuerwerk begrüßt, dabei gab es in der Geschichte unzählige Kulturen,
von den Sassaniden bis zu den Inka, die zusammenbrachen, nachdem man ihre Götter angezweifelt hatte.»
Vance blieb ungerührt. «Diese Kulturen fußten auf Lügen,auf Treibsand, genau wie unsere. Aber Sie machen sich zu viele Sorgen. Die Zeiten haben sich geändert. Die Welt von heute
ist doch etwas gereift.»
«Es waren die am höchsten entwickelten Kulturen ihrer Zeit.»
«Schenken Sie den armen Seelen da draußen ein wenig Vertrauen, Tess. Sicher wird es wehtun, aber … sie können es vertragen.»
«Und wenn nicht?»
Er drehte die Handflächen nach oben, doch sein Ton war selbstsicher und ernst. «Dann ist es eben so.»
Tess schaute ihn an und wandte sich dann dem Horizont zu. Graue Wolkenstreifen tauchten aus dem Nichts auf, in der Ferne war
das dunkle Meer mit weißen Schaumkronen getupft.
Vance kam näher heran. «Ich habe lange darüber nachgedacht und glaube letztlich, dass wir wirklich das Richtige tun. Tief
drinnen denken Sie genau wie ich.»
Zweifellos hatte er es gründlich durchdacht. Sie wusste, dass ihn das Projekt beruflich und persönlich ganz in Anspruch nahm,
ihn förmlich verzehrte. Doch er hatte es immer nur aus einer verzerrten Perspektive betrachtet, die vom tragischen Tod seiner
Familie überschattet war.
«Man wird Sie bekämpfen», sagte sie und verspürte seltsamerweise eine leise Hoffnung bei diesem Gedanken. «Man wird Experten
aufbieten, die alle erdenklichen Einwände gegen das Tagebuch vorbringen, die es als Fälschung bezeichnen werden. Angesichts
Ihrer Vergangenheit …» Verlegen hielt sie inne.
Er nickte. «Ich weiß. Darum würde ich es auch vorziehen, wenn Sie der Welt das Tagebuch präsentierten.»
Tess spürte, wie sie blass wurde. Mit diesem Vorschlag hatte er sie eiskalt erwischt. «Ich …?»
«Selbstverständlich. Immerhin ist es ebenso Ihre Entdeckung wie meine, und wie Sie sagten, war mein Benehmen in letzter Zeit
nicht gerade –», er suchte nach einem passenden Begriff, «– nicht gerade
vorbildlich
.»
Bevor sie antworten konnte, hörte sie, wie die Schiffsmotoren leiser wurden und verstummten. Die
Savarona
wurde langsamer, bis sie sich in den Wind drehte. Rassoulis trat auf die Brücke und rief ihnen etwas zu, das Tess wie durch
einen Nebel wahrnahm. Vance schaute sie noch einen Moment lang an, bevor er sich zum Kapitän wandte, der sie aufgeregt zu
sich winkte. Seine Worte klangen wie: «Wir haben was!»
KAPITEL 73
Reilly stand im hinteren Bereich der Brücke und sah zu, wie De Angelis und Karakaş, der Kapitän der
Karadeniz
, ein stämmiger Mann mit dichtem schwarzem Haar und buschigem Schnurrbart, sich über den Radarschirm des Patrouillenbootes
beugten und ihr nächstes Ziel auswählten.
Ziele gab es genug. Auf dem dunklen Bildschirm leuchteten Dutzende grüner Signale. Manche waren mit digitalen alphanumerischen
Kodes versehen, die anzeigten, dass das betreffende Schiff über einen modernen Transponder verfügte. Mit Hilfe der Datenbanken
von Küstenwache und Schifffahrt konnte man sie rasch identifizieren und ausschließen, doch gehörten leider die wenigsten Schiffe
zu dieser Gruppe. Die allermeisten Kontakte waren anonyme Signale: Hunderte von Fischerbooten und Segeljachten, die sich in
diesem beliebten Küstengebiet tummelten. Es würde nicht einfach sein, das Boot zu orten, auf dem sich Vance und Tess befanden.
Es war Reillys sechster Tag auf See, für seine Verhältnisse mehr als genug. Er hatte schnell begriffen, dass er kein Seebär
war, doch das Meer hatte sich immerhin anständig benommen. Die Nächte durften sie glücklicherweise an Land verbringen. Jeden
Tag liefen sie im Morgengrauen aus Marmaris aus und arbeiteten sich vom Golf von Hisarönü bis ins Gebietsüdlich des Dodekanes vor. Die
Karadeniz
, ein Patrouillenboot der SAR-3 3-Klasse , war leuchtend weiß gestrichen und am Rumpf mit den Worten
Sahil Güvenlik
, dem offiziellen Namen der türkischen Küstenwache, und einem roten Streifen versehen. Ein
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