Tod auf Ormond Hall
1.
Mit einem Seufzen stellte Michelle Bryant den Wecker ab. Genüsslich streckte sie sich, dann verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und dachte an die Party, die am vergangenen Abend in der Englischen Botschaft stattgefunden hatte. Zum Glück war es Sonntag und sie musste nicht arbeiten. Bis in den Morgen hinein hatte sie getanzt. Meist mit Kevin Ormond, einem jungen Engländer aus einflussreicher Familie, der für einige Tage geschäftlich in Athen zu tun hatte.
Ein verträumtes Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau, als sie daran dachte, was für zauberhafte Komplimente Kevin ihr gemacht hatte. Selten zuvor hatte sie einen so attraktiven Mann kennen gelernt. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig. Er besaß ein schmales, markantes Gesicht mit glatten, blonden Haaren und blauen Augen. Seine Oberlippe zierte ein kleiner Bart.
Dabei mache ich mir doch sonst nichts aus Männern mit Bärten, dachte Michelle und stand auf. Es war kurz vor zehn. Sie hatte sich mit Kevin Ormond verabredet, um ihm etwas die Gegend zu zeigen. Es wurde allerhöchste Zeit, zu duschen und sich anzuziehen.
Die junge Frau warf einen Blick in den Spiegel und verzog das Gesicht. Sie würde reichlich kaltes Wasser brauchen, um die Sp uren der vergangenen Nacht zu beseitigen. Hoffentlich erwartete Kevin nicht, Aphrodite persönlich auszuführen. Oder doch? Immerhin hatte er sie nach dem fünften Tanz mit dieser Göttin verglichen.
Michelle hatte sich gerade eine Tasse Schnellkaffee aufg ebrüht, als das Telefon klingelte. Hastig hob sie den Hörer ab. Ob es Kevin war? Vielleicht wollte er sich überzeugen, dass sie seine Einladung auch ernstgenommen hatte.
"Ach, du bist es", bemerkte sie enttäuscht, als sich ihre langjä hrige Freundin meldete. Wie sie, arbeitete auch Nancy Taylor an der Englischen Botschaft.
"Das klingt nicht gerade begeistert", bemerkte die junge Frau spöttisch. "Hast du etwa einen anderen Anruf erwartet? Wollte sich Mister Ormond bei dir me lden?"
Michelle spürte, wie sie errötete. Zum Glück konnte es Nancy nicht sehen. "Kevin hat mich zu einem Ausflug eingeladen", erw iderte sie. "Er wird mich gegen halb zwölf abholen."
"Kevin?" Nancy lachte. "Ihr nennt einander also schon beim Vo rnamen."
"Es hat sich so ergeben." Unwillkürlich berührte Michelle ihre rechte Wange. Zum Abschied hatte Kevin sie geküsst. Nein, ein Kuss war es eigentlich nicht gewesen. Seine Lippen hatten nur leicht ihre Wange g estreift.
"Sei mir nicht böse, Michelle, aber dein Mister Ormond gefällt mir nicht, auch wenn er der zweite Sohn eines Lords ist. An deiner Stelle würde ich ihm nicht über den Weg trauen. Auf mich wirkt er wie ein Gro ßwildjäger."
Michelle lachte auf. "Und für was hältst du mich, Nancy?“, e rkundigte sie sich. "Für einen Löwen, einen Panther oder gar ein Nilpferd?"
"Für ein Mädchen, das es nicht nötig hat, auf den erstbesten Mann hereinzufallen."
"Glaub mir, Nancy, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen."
"Jetzt bist du ärgerlich."
"Nein, nur etwas enttäuscht, weil du den Stab über einen Menschen brichst, den du nicht einmal richtig kennst." Michelle warf einen Blick zur Uhr. "Für mich wird es Zeit. Wir sehen uns ja morgen im Büro."
"Viel Spaß, Michelle. Bitte, sei mir nicht böse. Ich meine es nur gut."
"Ich weiß, Nancy", erwiderte die junge Frau. "Aber jetzt muss ich mich beeilen. Ich bin noch nicht einmal gekämmt."
"Dann bis morgen."
"So long." Michelle legte auf. Nachdenklich trank sie ihren Kaffee. Nancy war fünfundzwanzig, nur ein Jahr älter als sie, besaß jedoch was Männer bedarf, bedeutend mehr Erfahrung. Ihre Freundin verliebte sich schnell, doch meist folgte bereits wenige Tage später die Ernüchterung. Zur Zeit schwärmte Nancy von dem jungen Griechen, der das kleine Restaurant betrieb, in dem sie oft zu Mittag aßen.
Michelle stellte die leere Tasse in den Ausguss, machte noch rasch ihr Bett und kehrte ins Bad zurück, um etwas Make-up au fzulegen und ihre schulterlangen, schwarzen Haare zu kämmen. Sie probierte einige Frisuren aus, bevor sie sich entschied, die Haare nur einfach im Nacken zusammenzustecken.
Es klingelte. Michelle zählte bis zehn, dann ging sie langsam zur Wohnungstür und meldete sich über die Gege nsprechanlage.
"Darf ich nach oben kommen, Michelle?“, fragte Kevin O rmond.
"Gerne", erwiderte sie und öffnete die Tür.
Kevin Ormond brauchte keine zwei Minuten bis in den fünften Stock. Obwohl es einen Aufzug gab, hatte er die
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