Scriptum
Heilige Land befindet sich unter christlicher Herrschaft. Balduin II. ist König von Jerusalem, die Menschen in Europa jubeln, und Scharen von Pilgern machen sich auf den Weg, um zu sehen,
was eigentlich der Grund der Aufregung war. Den Pilgern war aber oft nicht bewusst, was für Gefahren ihnen unterwegs drohten.
Nachder ‹Befreiung› des Heiligen Landes fanden die Kreuzritter, sie hätten ihr Gelübde erfüllt, und kehrten mit dem, was sie an
Schätzen erbeutet hatten, heim nach Europa. Sie verschwendeten keinen weiteren Gedanken an den Schutz der eroberten Gebiete,
die von feindseligen muslimischen Staaten umgeben waren. Die Türken und Sarazenen, die weite Teile ihrer Länder an die christlichen
Armeen verloren hatten, dachten nicht daran, einfach zu vergeben und zu vergessen, und viele Pilger gelangten nie bis nach
Jerusalem. Sie wurden überfallen und ausgeraubt, nicht selten sogar umgebracht. Für Reisende stellten arabische Wegelagerer
eine ständige Bedrohung dar, mit anderen Worten, das ursprüngliche Ziel des Kreuzzugs war in gewisser Weise verfehlt worden.»
Tess schilderte Reilly einen besonders blutigen Vorfall aus jenem Jahr. Eine Gruppe von über dreihundert Pilgern war auf der
gefährlichen Strecke zwischen der Hafenstadt Jaffa, wo die Pilgerschiffe an der Küste Palästinas landeten, und der Heiligen
Stadt Jerusalem in einen Hinterhalt marodierender Sarazenen geraten und massakriert worden. Außerhalb Jerusalems trieben solche
bewaffneten Banden bald gewohnheitsmäßig ihr Unwesen. Und hier nun traten die Templer erstmals auf den Plan. Neun fromme Ritter
unter Führung von Hugues de Payens suchten eines Tages Balduin in seinem Palast in Jerusalem auf und boten dem König ihre
ergebenen Dienste an. Sie hätten, erklärten sie, die drei Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams abgelegt, darüber
hinaus aber noch ein viertes: das feierliche Gelübde nämlich, die Pilger auf ihrem Weg von der Küste nach Jerusalem zu beschützen.
Damit tauchten die Ritter genau zur rechten Zeit auf. Der Kreuzfahrerstaat benötigte dringend ausgebildete Kämpfer.
Tief beeindruckt von der Hingabe der gottesfürchtigen Ritter, wies König Balduin ihnen Unterkünfte im östlichen Teil seines
Palastes zu, der auf den Ruinen des von König Salomo erbauten Tempels stand. Deshalb waren sie bald als «Orden der armen Ritter
Christi und des Tempels Salomos» bekannt – oder einfach als Tempelritter.
Tess neigte sich vor. «Entscheidend ist die religiöse Bedeutung der Stätte, die König Balduin dem aufstrebenden Orden überließ»,
erklärte sie. Salomo hatte den ersten Tempel 950 vor Christus errichtet. Sein Vater David hatte auf Geheiß Gottes mit dem
Bau eines Tempels begonnen, um dort die Bundeslade zu verwahren, einen tragbaren Schrein, der die steinernen Gesetzestafeln
enthielt, die Moses von Gott empfangen hatte. Mit Salomos Tod fand auch die mit seiner Herrschaft verbundene Glanzzeit ein
Ende, denn aus dem Osten vordringende Völker eroberten die Länder Israel und Juda. Der Tempel selbst wurde 586 vor Christus
von den Chaldäern zerstört, die anschließend die Juden nach Babylon in die Sklaverei führten. Über fünfhundert Jahre später
ließ Herodes der Große den Tempel wieder errichten, um sich bei seinen jüdischen Untertanen beliebt zu machen und ihnen eindrucksvoll
vor Augen zu führen, dass ihr König, obschon kein Jude im klassischen Sinn, ein frommer Anhänger seiner angenommenen Religion
war. Der Bau sollte sein krönendes Vermächtnis sein: Der neue Tempel, weithin sichtbar über dem Kidrontal gelegen, war ein
prachtvolles, monumentales Bauwerk, das seinen Vorgänger in jeder Hinsicht in den Schatten stellte. Zwei mächtige Türen aus
reinem Gold schützten das Allerheiligste im Tempelinneren, zu dem nur der Hohepriester Zugang hatte.
Nach dem Tod des Herodes flammte der schon längerschwelende jüdische Aufstand von neuem auf, und im Jahr 66 nach Christus hatten die Rebellen ganz Palästina unter ihre Kontrolle
gebracht. Kaiser Vespasian sandte seinen Sohn Titus aus, um den Aufstand niederzuwerfen. Nach über sechsmonatigen erbitterten
Kämpfen fiel Jerusalem 70 nach Christus schließlich in die Hände der römischen Legionen. Auf Befehl des Titus wurde die Stadt,
deren Bevölkerung nach der furchtbaren Belagerung völlig aufgerieben war, dem Erdboden gleichgemacht. Und so wurde das «Bauwerk,
das alle anderen vom Schauen und
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