Scriptum
eine andere Frau, die anscheinend wusste, wen Tess meinte.
«Natürlich erinnere ich mich an Bill Vance. Er hat uns vor … oh, fünf oder sechs Jahren verlassen.»
Tess bekam Herzklopfen vor Aufregung. «Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?»
«Leider nein, ich glaube, er ist in den Ruhestand gegangen. Tut mir Leid.»
Tess gab sich noch nicht geschlagen. «Könnten Sie mir einen Gefallen tun?», beharrte sie. «Ich muss wirklich dringend mit
ihm sprechen. Ich arbeite beim Manoukian Institute, wir haben uns vor Jahren bei einer Ausgrabung kennen gelernt. Wären Sie
so freundlich, sich bei seinen Kollegen in der Fakultät umzuhören, ob von denen vielleicht einer weiß, wie er zu erreichen
ist?»
Die Frau erklärte sich gern dazu bereit. Tess nannte ihren Namen und ihre Telefonnummern, bedankte sich und legte auf. Sie
dachte kurz nach, wandte sich dann wieder ihrem Computer zu und suchte im Online-Telefonverzeichnis nach William Vance. Sie
fing mit dem Großraum New York an, wurde aber nicht fündig. Das war einer der Nachteile der grassierenden Handy-Manie, Mobilnummern
waren meist nicht registriert. Sie probierte es in Connecticut, wieder erfolglos. Sie weitete ihre Suche auf das gesamte Land
aus, mit dem Ergebnis, dass sie diesmal viel zu viele Einträge unter diesem Namen fand. Darauf gab sie seinen Namen in ihre
Suchmaschine ein und erhielt Hunderte Treffer. Bei einer raschen Prüfung fand sie allerdings nirgends einen Hinweis auf seinen
derzeitigen Verbleib.
Sie lehnte sich zurück und dachte nach. Draußen im Garten waren die Tauben verschwunden, dafür zankten sich jetztdoppelt so viele Spatzen miteinander. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl und ließ den Blick über ihr Bücherregal wandern. Dabei
kam ihr ein Einfall. Sie wählte erneut die Nummer der Columbia University und bat diesmal darum, mit der Bibliothek verbunden
zu werden. Ein Mann meldete sich, sie stellte sich vor und erklärte, sie sei interessiert an sämtlichen Aufsätzen oder Veröffentlichungen
von William Vance im Bestand der Bibliothek. Sie buchstabierte dem Bibliothekar den Namen und betonte, ihr besonderes Interesse
gelte seinen Arbeiten zum Thema Kreuzzüge, denn sie vermutete, dass Vance wahrscheinlich nichts speziell über die Templer
geschrieben hatte.
«Klar, Augenblick bitte.» Nach einer kurzen Unterbrechung meldete der Bibliothekar sich wieder. «Ich habe gerade alles aufgerufen,
was wir von William Vance dahaben.» Er las die Titel von Aufsätzen und Artikeln aus der Feder von William Vance vor, die möglicherweise
ihren Erwartungen entsprachen.
«Besteht die Möglichkeit, dass Sie mir Kopien davon zuschicken?»
«Sicher. Die müssen wir Ihnen allerdings in Rechnung stellen.»
Tess nannte ihre Büroadresse und betonte mit Nachdruck, dass die Rechnung an sie persönlich gestellt werden sollte. Derzeit
war es nicht ratsam, die Hüter des Institutsetats unnötig zu verärgern. Als sie auflegte, fühlte sie sich seltsam euphorisch.
Das erinnerte sie an ihre Zeit als Ausgräberin und an die Aufregung, vor allem zu Beginn einer Ausgrabung, wenn alles möglich
schien.
Aber das hier war keine Ausgrabung.
Was fällt dir ein? Du bist Archäologin. Spiel nicht die Amateurdetektivin.
Ruf das FBI an, erzähl ihnen von deinen Vermutungen und überlass dann alles Weitere denen
. Tess überlegte. Beim FBI würde man sie vermutlich nur auslachen. Aber trotzdem. Hatten Detektive und Archäologen nicht auch
einiges gemeinsam? In beiden Metiers ging es schließlich darum, der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Wobei natürlich
eine Vergangenheit, die gerade zwei Tage zurücklag, für Archäologen normalerweise nicht von Interesse war.
Aber was spielte das für eine Rolle.
Sie kam nicht dagegen an. Das Ganze faszinierte sie einfach zu sehr, schließlich hatte sie den Überfall ja miterlebt und sogar
eine wichtige Beobachtung gemacht. Vor allem aber konnte sie ein wenig Aufregung in ihrem Leben wirklich dringend gebrauchen.
Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu, um weitere Recherchen über die Tempelritter anzustellen. Als sie den Blick hob,
sah sie, dass Lizzie, die Sekretärin, sie komisch anschaute. Tess lächelte ihr zu. Sie hatte Lizzie gern und redete mit ihr
ab und zu auch über Privatangelegenheiten. Aber nachdem sie schon Edmondson eingeweiht hatte, würde sie so bald niemand anderen
ins Vertrauen ziehen. Nicht in dieser Angelegenheit.
Niemanden.
KAPITEL 18
Reilly
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