Scriptum
das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Binnen kürzester Zeit hatten
sie die Ritter überwältigt.
Hilflos mussten sie die Plünderung ihres Tempels mit ansehen. Dem Großmeister blieb nur die Hoffnung, dass dem König und seinen
Handlangern die Bedeutung der Beute, die sie davonschleppten, verborgen blieb, oder dass sie in ihrer Gier nach Gold und Edelsteinen,
die sie nirgends finden konnten, all jene scheinbar wertlosen Gegenstände übersehen würden, die doch in Wirklichkeit so unermesslich
wertvoll waren. Dann war Stille eingekehrt, bis man Molay und die anderen Ritter gemächlich und bemerkenswert höflich auf
die Karren verfrachtet hatte, die sie davonfuhren, ihrem Schicksal entgegen.
Bei der Erinnerung an diesen Moment der Stille begriff Molay auf einmal, was heute anders war.
Sonst herrschte hier unten pausenloser Lärm: Ketten rasselten und klirrten, Streckbänke und Räder knarrten, Blasebälge zischten,
vom endlosen Schreien und Winseln der Gefolterten ganz zu schweigen.
Heute jedoch herrschte vollkommene Stille.
Dann vernahm der Großmeister ein Geräusch. Schritte, die näher kamen. Zunächst schloss er auf Gaspard Chaix, den Kerkermeister,
der die Folterungen beaufsichtigte, aber die Schritte des Scheusals klangen anders als diese jetzt, nämlich schwerfällig und
bedrohlich. Es konnte auch keiner seiner schlurfenden, vertierten Untergebenen sein. Nein, es waren mehrere Männer, die durch
den Tunnel geeilt kamen und schließlich die Zelle betraten, in der Molay an Ketten aufgehängt war. Er blinzelte mit verschwollenen,
blutunterlaufenen Augen. Vor ihm stand ein halbes Dutzend Männer in farbenprächtigen Gewändern. In ihrer Mitte: kein Geringerer
als der König selbst.
Philipp IV., von schlanker, eindrucksvoller Gestalt, überragte die Schar seiner Speichellecker und Schranzen um Haupteslänge. Selbst
in seinem kläglichen Zustand vermochte Molay sich der Wirkung, die von der einnehmenden Erscheinung des Herrschers von Frankreich
ausging, nicht zu entziehen. Wie konnte ein äußerlich so anziehender Mensch nur so abgrundtief böse sein? Mit seiner blassen
Haut und den langen blonden Haaren wirkte Philipp der Schöne, ein junger Mann von noch nicht dreißig Jahren, wie der Inbegriff
eines Edelmanns – und doch hatte er dem Land, getrieben von unstillbarer Gier nach Reichtum und Macht, die nur noch von seiner
Verschwendungssucht übertroffen wurde, seit knapp zehn Jahren rücksichtslos Tod und Verderben gebracht. Wer ihm im Weg stand
oder auch nur sein Missfallen erregte, den ließ er einkerkern und erbarmungslos foltern.
Die Tempelritter hatten sich weit mehr zuschulden kommen lassen, als nur sein Missfallen zu erregen.
Wieder vernahm Molay Schritte, die den Tunnel entlangkamen. Zögerliche, nervöse Schritte, die die Ankunft einer schmächtigen
Gestalt in einem grauen Kapuzengewand in der Zelle ankündigten. Der Mann geriet auf dem unebenen Boden ins Stolpern und konnte
sich nur mit knapper Not fangen. Dabei glitt die Kapuze zurück. Es war lange her, seit Molay Clemens zum letzten Mal gesehen
hatte, und in der Zwischenzeit hatte sich das Antlitz des Mannes verändert. Tiefe Furchen hatten sich neben die herabgezogenen
Mundwinkel eingekerbt, als mache ihm ein permanentes inneres Unbehagen zu schaffen. Seine Augen, tief eingesunken in ihre
Höhlen, waren dunkel umschattet.
Der König und der Papst. Zusammen.
Das konnte nichts Gutes verheißen.
Der König schaute Molay unverwandt an, aber der gebrochene Mann nahm ihn gar nicht zur Kenntnis. Er konnte nicht den Blick
losreißen von dem klein gewachsenen Mann in der Kutte, der sichtlich nervös war und es vermied, ihn anzusehen. Molay fragte
sich, woher die Scheu des Papstes rührte. Hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er mit seinen Täuschungen und der subtilen
Manipulation des Königs maßgeblich zum Sturz der Tempelritter beigetragen hatte? Oder konnte er einfach den Anblick grauenhaft
verunstalteter Gliedmaßen und schwärender offener Wunden, die bereits in Fäulnis übergegangen waren, nicht ertragen?
Der König trat näher. «Nichts?», fuhr er barsch einen Mann an, der etwas abseits der Gruppe stand. Dieser trat vor, und Molay
sah, dass es tatsächlich Gaspard Chaix war, der Kerkermeister, der demütig den Blick gesenkt hielt und den Kopf schüttelte.
«Nichts», bestätigte der stoppelbärtige Unhold.
«Zum Teufel mit ihm!» Des Königs Stimme bebte vor Zorn. Zorn, der
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