Scriptum
keine Pilger mehr zu geleiten, kein Heiliges Land mehr zu verteidigen. Sie hatten keine Heimat, keinen Feind
und keine Aufgabe mehr. Und allzu viele Freunde hatten sie auch nicht. Ihre ungeheure Macht und ihr Reichtum waren ihnen zuKopf gestiegen, die armen Ritter Christi waren mittlerweile alles andere als arm, sie waren hochmütig und habgierig geworden.
Und viele Monarchen, allen voran der König von Frankreich, schuldeten ihnen viel Geld.»
«Und so wurden sie zu Fall gebracht.»
«Zu Fall gebracht und ausgelöscht», bestätigte Tess. «Im wahrsten Sinne des Wortes.» Nach einem Schluck Kaffee schilderte
sie Reilly, wie die Templer zunehmend ins Gerede gerieten, nicht zuletzt wegen der mysteriösen Aufnahmeriten, die von dem
Orden traditionell unter strengster Geheimhaltung vollzogen wurden. Schon bald wurden sie einer langen Reihe unerhörter, schockierender
Ketzereien angeklagt.
«Was geschah dann?»
«Freitag, der Dreizehnte», erwiderte Tess trocken. «Die Originalversion.»
KAPITEL 20
Paris, März 1314
Nach und nach erlangte Jacques de Molay das Bewusstsein wieder.
Wie lange war er diesmal ohne Besinnung gewesen? Eine Stunde? Zwei? Länger, davon war der Großmeister überzeugt, konnte sein
Dämmerzustand unmöglich gedauert haben. Mehr als ein paar Stunden Ruhe war ein Luxus, den man ihm nie und nimmer zubilligen
würde.
Die Nebel in seinem Kopf lichteten sich, und damit meldeten sich auch die Schmerzen wieder, die er, wie gewohnt, verdrängte.
Der menschliche Geist war ein sonderbares, machtvolles Instrument. Nach den langen Jahren der Kerkerhaft und Folter hatte
er gelernt, ihn wie eine Waffe einzusetzen. Eine Waffe zwar, die nur der Verteidigung diente, aber gleichwohl eine Waffe,
mit der er zumindest einige der Ziele vereiteln konnte, die seine Feinde verfolgten.
Seinen Körper konnten sie zerbrechen, und das war auch geschehen, aber seine Seele und sein Geist, obschon beschädigt, gehörten
immer noch ihm allein.
Und das Gleiche galt für seinen Glauben.
Er schlug die Augen auf. Um ihn herum hatte sich nichtsverändert, bis auf einen eigenartigen Unterschied, den er nicht auf Anhieb zu benennen vermochte. Nach wie vor waren die Mauern
der Zelle glitschig von grünem Schlick, der auf den grob gepflasterten Boden troff. Unmengen von Staub, geronnenem Blut und
Exkrementen hatten den Grund beinahe eingeebnet. Wie viel von diesem Unrat stammte aus seinem eigenen Körper? Sehr viel, fürchtete
er. In diesem Loch saß er schließlich schon seit … er dachte angestrengt nach. Seit sechs Jahren? Sieben? Mehr als genug Zeit, um ihn körperlich zugrunde zu richten.
Man hatte ihm zahllose Knochen gebrochen, die, mehr schlecht als recht verheilt, abermals gebrochen wurden. Gelenke waren
ihm brutal ausgerenkt, Sehnen durchtrennt worden. Seine Hände und Arme, das wusste er, waren zu nichts mehr zu gebrauchen,
auch gehen konnte er längst nicht mehr. Seinen Geist aber vermochten sie nicht zu verkrüppeln. Der war ungebunden und frei,
konnte diesem dunklen, grauenhaften Verlies unter den Straßen von Paris entfliehen und auf Reisen gehen … überallhin.
Also, wohin wollte er heute? Zu den saftig grünen Weiten im Herzen Frankreichs? Zu den Ausläufern der Alpen? An die Küste
– oder sogar noch weiter fort, zurück in sein geliebtes Outremer?
Nicht zum ersten Mal geriet er ins Grübeln. War er verrückt geworden? Höchstwahrscheinlich. Nach all den Qualen und Martern,
die ihm die Folterknechte in dieser unterirdischen Hölle zugefügt hatten, konnte er unmöglich noch bei Verstand sein.
Sechseinhalb Jahre war es her, dass die Männer des Königs bei Nacht den Tempel zu Paris gestürmt hatten.
Seinen
Tempel.
Es war ein Freitag gewesen; Freitag, der dreizehnte Oktober 1307. Er wie auch die meisten anderen Ritter lagen in ihren Betten und schliefen, als eine Rotte schwer bewaffneter Seneschalle
des Königs im Morgengrauen in das Ordenshaus eindrang. Die Tempelritter hätten besser darauf vorbereitet sein sollen. Seit
Monaten hatten sich die Anzeichen gehäuft, dass der korrupte König und seine Vasallen auf Mittel und Wege sannen, die Macht
des Ordens zu brechen. An jenem Morgen hatten sie endlich den Mut zum Handeln aufgebracht und einen Vorwand gefunden. Sogar
auf einen Kampf mit den gefürchteten Tempelrittern ließen sie sich ein. Diese leisteten zwar erbitterte Gegenwehr, aber die
Männer des Königs, die in der Überzahl waren, hatten
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