Scriptum
Was immer der ehemalige
Universitätsprofessor jetzt tun mochte – er war offenbar tief gesunken. Wäre sie ihm heute, ein Jahrzehnt nach ihrer ersten
Begegnung, auf der Straße über den Weg gelaufen, sie hätte ihn womöglich gar nicht erkannt.
Er blickte sie mit einem Ausdruck vorsichtiger Zurückhaltung an.
«Es ist mir wirklich unangenehm, Sie hier zu stören», stammelte sie. «Ich hoffe, Sie verzeihen mir. Das ist sicher ein sehr
persönlicher Moment für Sie, und glauben Sie mir, wenn ich irgendeine andere Möglichkeit gefunden hätte, Kontakt zu Ihnen
aufzunehmen …» Sie stockte – seine Miene hellte sich kaum merklich auf, und es schien ihr, als habe er sie wiedererkannt.
«Tess. Tess Chaykin. Olivers Tochter.»
Sie holte tief Luft und seufzte erleichtert auf. Als sich seineZüge entspannten und die durchdringenden grauen Augen zu leuchten begannen, nahm sie einen schwachen Widerschein der Ausstrahlung
wahr, die er besessen hatte, als sie sich vor all den Jahren zuletzt begegnet waren. Sein Gedächtnis funktionierte offenbar
tadellos, denn er fuhr fort: «Jetzt weiß ich, warum Sie anders aussehen. Als wir uns kennen lernten, waren Sie schwanger.
Ich erinnere mich noch, wie ich damals dachte, die türkische Wildnis sei nicht der geeignetste Aufenthaltsort für Sie.»
«Stimmt.» Ihr Unbehagen ließ nach. «Ich habe eine Tochter. Kim.»
«Sie muss jetzt …» Er überlegte.
«Sie ist neun», ergänzte Tess. Dann schlug sie verlegen die Augen nieder. «Es tut mir Leid, ich … ich hätte wirklich nicht herkommen sollen.»
Plötzlich drängte es sie, sich zurückzuziehen, von hier zu verschwinden. Im nächsten Moment erstarb sein Lächeln. Sein ganzes
Gesicht verdüsterte sich, und er richtete den Blick auf den Grabstein. Mit leiser Stimme sagte er: «Meine Tochter Annie wäre
heute fünf Jahre alt.»
Tochter?
Tess blickte verwirrt erst ihn, dann den Grabstein an, der weiß und von schlichter Eleganz war. Die Inschrift in etwa fünf
Zentimeter hohen gravierten Lettern lautete:
Martha & Annie
Vance
Möge ihr Lächeln
eine bessere Welt erhellen
Zuerst verstand sie nicht. Dann wurde es ihr mit einem Schlag klar.
Seine Frau war im Kindbett gestorben.
Tess spürte, wie ihr vor Scham das Blut in den Kopf schoss. Wie gedankenlos von ihr, diesen Mann ans Grab seiner Frau und
seiner Tochter zu verfolgen. Als sie zu Vance aufschaute, begegnete er ihrem Blick mit vor Kummer zerfurchtem Gesicht. Beklommen
murmelte sie: «Es tut mir so Leid. Ich wusste nichts davon.»
«Wissen Sie, wir hatten schon Namen ausgesucht. Matthew, falls es ein Junge würde, und eben Annie. Das hatten wir in unserer
Hochzeitsnacht beschlossen.»
«Was … wie kam es …» Sie brachte es nicht über sich, die Frage auszusprechen.
«Es geschah kurz nach der Hälfte der Schwangerschaft. Martha hatte von Anfang an unter intensiver ärztlicher Beobachtung gestanden.
Sie war – das heißt, wir beide waren – schon ziemlich alt für das erste Kind. Bei ihr lag eine Neigung zu hohem Blutdruck
in der Familie. Jedenfalls entwickelte sie eine so genannte Präeklampsie. Die genauen Ursachen dieser Störung sind nicht bekannt.
Man sagte mir, sie sei an sich nichts Ungewöhnliches, doch in seltenen Fällen kann sie einen lebensgefährlichen Verlauf nehmen.
Und so kam es bei Martha.» Er hielt inne, atmete tief durch und wandte den Blick ab. Offenbar schmerzte es ihn noch immer,
darüber zu sprechen. Tess wünschte, die Erde würde sich auftun und sie verschlingen, damit er nicht durch ihre Aufdringlichkeit
gezwungen war, all das noch einmal zu durchleben. Doch es war zu spät.
«Die Ärzte sagten, man könne nichts dagegen tun», fuhr er fort. «Sie teilten uns mit, Martha müsse die Schwangerschaft abbrechen.
Annie war noch so jung, dass keinerlei Hoffnung bestand, sie im Brutkasten am Leben zu erhalten, und MarthasÜberlebenschancen verringerten sich mit jedem weiteren Tag der Schwangerschaft.»
«Und der Abbruch ist nicht …»
Sein Blick wurde verschlossen. «Unter normalen Umständen wäre so etwas für uns nie in Frage gekommen. Aber Marthas Leben stand
auf dem Spiel. Und so taten wir, was wir immer getan hatten.» Sein Ausdruck verhärtete sich merklich. «Wir fragten unseren
Gemeindepriester, Pater McKay, was wir tun sollten.»
Tess wand sich innerlich. Sie ahnte, wie es weitergegangen war.
Vance fuhr mit versteinerter Miene fort: «Sein Standpunkt – der
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