Scriptum
Standpunkt der Kirche – war eindeutig. Er sagte, es wäre Mord.
Und zwar nicht irgendein Mord, sondern der denkbar abscheulichste. Ein unaussprechliches Verbrechen. Oh, er ließ sich wortgewaltig
darüber aus. Er sagte, wir würden das geschriebene Wort Gottes verletzen: ‹Du sollst nicht töten.› Er sagte, es ginge schließlich
um ein Menschenleben. Wir würden einen Menschen ganz zu Beginn seines Lebens töten – das unschuldigste Mordopfer, das man
sich nur vorstellen könne. Ein Opfer, das nicht begreift, was ihm widerfährt, ein Opfer, das nicht protestieren, nicht einmal
um sein Leben flehen kann. Er fragte uns, wie wir wohl handeln würden, wenn wir seine Schreie hören, seine Tränen sehen könnten.
Und als hätte all das noch nicht genügt, fegte er mit einem letzten Argument jeden Zweifel hinweg. ‹Wenn Sie ein Baby hätten,
das ein Jahr alt ist – würden Sie es töten, würden Sie es opfern, um Ihr eigenes Leben zu retten? Nein. Natürlich nicht. Und
wenn es einen Monat alt wäre? Oder einen Tag? Wann beginnt die Uhr des Lebens wirklich zu ticken?›» Er schwieg einen Moment
lang und hing kopfschüttelnd derErinnerung nach. «Wir befolgten seinen Rat. Die Schwangerschaft wurde nicht abgebrochen. Wir setzten unser Vertrauen in Gott.»
Vance betrachtete das Grab, sichtlich hin- und hergerissen zwischen Kummer und Zorn. «Martha hielt tapfer durch, bis die Krampfanfälle
einsetzten. Schließlich starb sie an Hirnblutungen. Und Annie … ihre winzige Lunge bekam unsere schmutzige Luft gar nicht erst zu atmen.»
«Es tut mir so furchtbar Leid.» Tess war kaum imstande zu sprechen. Doch Vance schien ohnehin in seine eigene Welt eingetaucht
zu sein. In seinen Augen loderte eine Wut, die aus seinem tiefsten Inneren kam und jegliche Trauer verdrängte.
«Wir waren so töricht, das Leben der beiden in die Hände dieser ignoranten, arroganten Scharlatane zu legen. So etwas wird
nie wieder geschehen. Niemandem. Dafür werde ich sorgen.» Er starrte ins Leere. «Die Welt hat sich in den letzten tausend
Jahren sehr verändert. Es geht im Leben nicht um den Willen Gottes oder die Bosheit des Teufels. Es geht um wissenschaftliche
Tatsachen. Und es ist an der Zeit, dass die Menschen das verstehen.»
In diesem Moment begriff Tess.
Die plötzliche Gewissheit ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Er war der Mann in dem Museum gewesen. William Vance war der vierte Reiter.
In ihrem Kopf blitzten Bilder auf – die panisch flüchtenden Museumsbesucher, die angreifenden Ritter, die Schüsse, die Verwüstung
und das Geschrei.
«Veritas vos liberabit.»
Die Worte kamen wie von selbst aus ihrem Mund.
Seine grauen Augen durchbohrten sie zornig. Sein Blick verriet, dass auch er verstanden hatte.
«So ist es.»
Sie musste von hier verschwinden, doch ihre Beine schienen sich in Blei verwandelt zu haben. Ein Gedanke schoss ihr durch
den Kopf: Reilly.
«Es tut mir Leid, ich hätte nicht herkommen sollen», brachte sie heraus. Wieder dachte sie an das Museum, an die Menschen,
die wegen dieses Mannes gestorben waren. Sie blickte sich suchend um, doch zu dieser frühen Stunde war weit und breit niemand
zu sehen, weder Trauernde noch Touristen oder Vogelliebhaber, die häufig herkamen. Sie waren allein.
«Ich bin froh darüber. Ich weiß Ihre Gesellschaft zu schätzen. Gerade Sie sollten eigentlich mein Vorhaben zu würdigen wissen.»
«Bitte, ich … ich wollte nur …» Mit äußerster Willensanstrengung brachte sie endlich ihre Beine dazu, ihr wieder zu gehorchen. Sie wich zögernd ein paar
Schritte zurück und sah sich zugleich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. In diesem Moment klingelte ihr Handy.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie Vance an, der langsam auf sie zukam. Während sie weiter rückwärts stolperte und abwehrend
eine Hand ausstreckte, tastete sie mit der anderen in ihrer Tasche nach dem Handy, das noch immer klingelte.
«Bitte», stieß sie flehentlich hervor.
«Lassen Sie das», sagte er ruhig. Plötzlich hielt er etwas in der Hand, das einer Pistole ähnelte – oder eher einer Spielzeugpistole
mit schwarzgelben Streifen auf dem kurzen, kantigen Lauf. Tess umklammerte krampfhaft das Handy inihrer Tasche. Ehe sie sich von der Stelle rühren oder schreien konnte, drückte er den Abzug. Zwei Projektile trafen Tess an
der Brust, und augenblicklich spürte sie einen unerträglichen Schmerz, der in brennenden Wellen ihren ganzen Körper
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