SdG 04 - Die eisige Zeit
sich das eine Auge auf das Gesicht des Mannes.
Und dass dieser Mann hier war, war wirklich ein Geschenk, wie der Wolf schließlich feststellte. Denn anders war das, was er im Gesicht des Sterblichen entdeckte, nicht zu erklären. Ein gespiegelter Geist, bis in die kleinste Einzelheit. Dies war eine Möglichkeit, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte.
Doch noch immer zögerte der Wolf.
Bis eine uralte Erinnerung vor seinem geistigen Auge aufstieg. Ein zur Bewegungslosigkeit erstarrtes Bild, das im Lauf der langen Zeit allmählich verblasst war.
Es reichte aus, um die Spirale zu schließen.
Und dann war es geschehen.
Er blinzelte aus seinem einen noch funktionierenden Auge zu einem fahlblauen, wolkenlosen Himmel hinauf. Das Narbengewebe, das die Überreste seines anderen Auges bedeckte, prickelte mit einem Jucken, das ihn fast wahnsinnig machte, als krabbelten Insekten unter seiner Haut herum. Er trug einen Helm, dessen Visier hochgeschoben war. Unter ihm waren harte, scharfkantige Felsen, die sich in seinen Körper gegraben hatten.
Reglos blieb er liegen, versuchte sich an das zu erinnern, was zuletzt geschehen war. Die Vision eines dunklen Risses, der sich vor ihm öffnete – er war hineingestürzt, war hineingeschleudert worden. Das Pferd war unter ihm verschwunden, seine Bogensehne mit einem lauten Twang gerissen. Ein Gefühl des Unbehagens war in ihm aufgestiegen – ein Gefühl, das er mit seinem Gefährten geteilt hatte. Einem Freund, der an seiner Seite geritten war. Hauptmann Paran.
Toc der Jüngere stöhnte. Locke. Die verrückte Puppe.
Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Die Bruchstücke fügten sich zusammen, die Erinnerung kehrte zurück, begleitet von einer Woge der Furcht. Er rollte sich auf die Seite, obwohl jeder Muskel seines Körpers protestierte. Beim Atem des Vermummten, dies ist nicht die Rhivi-Ebene.
Eine weite Fläche aus geborstenem schwarzen Glas erstreckte sich in alle Richtungen. Grauer Staub hing in unbeweglichen Wolken eine Armspanne darüber. Zu seiner Linken erhob sich in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Schritt ein flacher Hügel, unterbrach die Monotonie der Landschaft.
Seine Kehle fühlte sich rau an. Sein Auge schmerzte. Die Sonne stand glühend heiß am Himmel. Hustend setzte Toc sich auf; unter ihm knirschten die Obsidian-Scherben. Er sah seinen doppelt gekrümmten Hornbogen neben sich liegen und griff danach. Der Köcher war am Sattel seines Pferdes befestigt gewesen. Wo auch immer er hingeraten war, sein treues wickanisches Pferd war ihm nicht gefolgt. Abgesehen von dem Messer an seiner Hüfte und dem im Augenblick nutzlosen Bogen in seiner Hand besaß er nichts. Nichts zu essen, kein Wasser. Als er seinen Bogen etwas genauer untersuchte, vertieften sich die Falten auf seiner Stirn. Die Darmsehne war ausgeleiert.
Sehr sogar. Das bedeutet, dass ich … einige Zeit … weg … war. Aber was heißt weg? Wo bin ich gewesen? Locke hatte ihn in ein Gewirr geschleudert. Und irgendwie war dort Zeit verloren gegangen. Er war nicht übermäßig durstig und auch nicht besonders hungrig. Doch selbst wenn er Pfeile gehabt hätte, war die Zugkraft des Bogens dahin. Und was noch schlimmer war: Die Sehne war ausgetrocknet, das Wachs hatte Obsidianstaub aufgenommen. Sie würde es nicht überstehen, neu gespannt zu werden. Das bedeutete aber auch, dass Tage, wenn nicht gar Wochen vergangen waren, auch wenn ihm sein Körper etwas anderes sagte.
Er stand auf. Das Kettenhemd unter seiner Tunika protestierte gegen die Bewegung, verstreute glitzernden Staub.
Bin ich im Innern eines Gewirrs? Oder hat es mich wieder ausgespuckt? Wie auch immer, er musste herausfinden, wo diese leblose Ebene aus vulkanischem Glas aufhörte. Vorausgesetzt, dass sie überhaupt irgendwo aufhörte …
Er begann, auf den Hügel zuzugehen. Der war zwar nicht besonders hoch, doch Toc musste jeden Aussichtspunkt nutzen, den er finden konnte. Als er sich dem Hügel näherte, sah er andere von der gleichen Art, in gleichmäßigen Abständen dahinter. Hügelgräber. Na toll, ich liebe Hügelgräber. Und dann einer in der Mitte, der höher war als alle übrigen.
Toc ging um den ersten Hügel herum. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass er ausgehöhlt worden war, wahrscheinlich von Plünderern. Nach einem kurzen Augenblick blieb er stehen, drehte sich um und trat näher heran. Er kauerte sich neben den ausgehöhlten Schacht, spähte in den schrägen Tunnel hinein. So weit er sehen konnte –
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