SdG 04 - Die eisige Zeit
des langen Marsches in sein Gefolge aufgenommen hatte, bis dem einäugigen Tenescowri schließlich ein Pferd gegeben worden war, und er mit Anasters Leutnants an der Spitze der menschlichen Flutwelle ritt.
Natürlich wechselten die Gesichter in Anasters Kompanie von Leutnants mit brutaler Regelmäßigkeit.
Jetzt wartete die formlose, hungernde Armee zu Füßen des Pannionischen Sehers. Bei Anbruch der Morgendämmerung würde er auf einem Balkon von Wachts zentralem Turm erscheinen und seine Hände zum heiligen Segen erheben.
Das bestialische Geheul, das als Antwort auf seinen Segen zu ihm aufsteigen würde, würde einen geringeren Mann zerbrechen lassen, der Seher jedoch mochte zwar alt sein, doch er war kein gewöhnlicher Mann. Er war die Verkörperung Pannions, des Gottes, des einzigen Gottes.
Wenn Anaster die Armee der Tenescowri nach Norden führte, zum Fluss und darüber hinaus bis nach Capustan, würde er in sich die Macht tragen, die der Seher war. Und der Feind, der sich versammelt hatte, um sich ihnen entgegenzustellen, würde geschändet, verschlungen, vom Angesicht der Erde getilgt werden. In den Köpfen der Hunderttausend gab es keinen Zweifel. Nur Gewissheit, ein rasiermesserscharfes eisernes Schwert im Griff eines unaufhörlichen, verzweifelten Hungers.
Der einäugige Mann starrte noch immer zu den Kondoren hinauf, während das Licht immer schwächer wurde. Vielleicht, so flüsterten einige, stand er mit dem Seher persönlich in Verbindung, und sein Blick war gar nicht auf die kreisenden Vögel, sondern auf die Festung von Wacht gerichtet.
Dies war der Wahrheit so nahe, wie es den Bauern nur möglich war. In Wirklichkeit studierte Toc der Jüngere die hoch aufragende Befestigungsanlage, ein altmodisches Kloster, das durch militärische Anbauten wie zinnenbewehrte Brustwehre, Mauern für Flankenfeuer, gewaltige Torhäuser und Gräben mit steilen Wänden erweitert worden war und jetzt verzerrt und missgestaltet wirkte. Die Arbeiten dauerten immer noch an; die Steinmetze und Baumeister hatten ganz eindeutig die Absicht, auch während der Nacht unter hoch aufragenden Kohlepfannen mit tanzenden Flammen durchzuarbeiten.
Oh ja, beeilt euch mit diesen letzten verzweifelten Verbesserungen. Spüre, was du spürst, alter Mann. Es ist ein neues Gefühl für dich, aber es ist eines, das wir anderen sehr gut kennen. Man nennt es Furcht. Die sieben K’ell-Jäger, die du gestern nach Süden geschickt hast, die auf der Straße an uns vorbeigeschritten sind … sie werden nicht zurückkommen. Und das magische Feuer, das du nachts am südlichen Himmel aufblitzen siehst … es kommt näher. Unerbittlich.
Der Grund ist eigentlich ganz einfach – du hast die liebe Lady Missgunst verärgert. Und wenn sie wütend ist, ist sie gar nicht nett. Hast du Bastion einen Besuch abgestattet, nachdem das Gemetzel stattgefunden hat? Hast du deine Lieblings-Urdomen hingeschickt, damit sie mit einem detaillierten Bericht zurückkommen? Hat dieser Bericht deine Knie weich werden lassen? Das sollte er eigentlich tun. Denn du müsstest von ihnen erfahren haben – von der Wölfin und dem Hund, beide riesengroß und stumm, die in die Menschenmenge gestürmt sind und sie zerrissen haben. Von dem T’lan Imass, dessen Schwert wie ein rostfarbener Schemen durch deine hoch gerühmten Elitekrieger gefetzt ist. Und von den Seguleh, oh ja, den Seguleh. Der Strafarmee aus drei Kriegern, die gekommen ist, um deiner Arroganz die passende Antwort zu erteilen …
Der Schmerz in Tocs Magen hatte nachgelassen; der Knoten aus Hunger hatte sich zusammengezogen, war geschrumpft und zu einem beinahe gefühllosen Kern des Verlangens geworden; eines Verlangens, das seinerseits gehungert hatte. Seine Rippen zeichneten sich scharf und deutlich unter der gespannten Haut ab. Sein Bauch war aufgetrieben. Seine Gelenke schmerzten unaufhörlich, und er spürte, dass seine Zähne sich lockerten. Der einzige Geschmack, den er in diesen Tagen kannte, war der von irgendwelchen Abfällen, die ihm gelegentlich in die Hände fielen, und die malzige Bitterkeit seines eigenen Speichels, der dann und wann von abgestandenem, mit ein bisschen Wein versetztem Wasser aus den Fässern auf den Wagen weggespült wurde, oder auch – sehr viel seltener – mit einem Krug Bier, das für die wenigen Günstlinge des Ersten Kindes reserviert war.
Tocs Kameraden, die anderen Leutnants – und auch Anaster selbst – waren gut genährt. Sie nahmen die zahllosen Leichen gerne an,
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