SdG 04 - Die eisige Zeit
ist, zu erwachen.«
»So erzählt man es sich.«
»Und dass alles Leben zerstört würde, sollte sie tatsächlich erwachen.«
»So erzählt man es sich.«
»Also?«
»Also nichts. Das Land erbebt, Berge explodieren, heiße Ströme fließen. Dies sind natürliche Dinge für eine Welt, deren Seele glühend heiß ist. Und sie sind an ihre eigenen Gesetze von Ursache und Wirkung gebunden. Die Welt ist geformt wie die Kugel aus Dung, die manche Käfer rollen, und sie reist durch ein kaltes Nichts um die Sonne herum. Die Oberfläche besteht aus Stücken, die auf einem Ozean aus geschmolzenen Felsen dahintreiben. Manchmal stoßen diese Stücke knirschend aneinander. Manchmal werden sie auseinander gezogen. Sie werden von Gezeiten gezogen und gestoßen, genau wie die Meere gezogen und gestoßen werden.«
»Und wo ist die Göttin in diesem Schema?«
»Sie war das Ei im Dung. Wurde vor langer Zeit ausgebrütet. Ihr Geist gleitet auf den verborgenen Flüssen unter unseren Füßen dahin. Sie ist der Schmerz des Daseins. Sie ist die Königin des Bienenstocks, und wir sind ihre Soldaten und Arbeiter. Und von Zeit zu Zeit … schwärmen wir aus. «
»In die Gewirre?«
Die alte Frau zuckte die Schultern. »Auf allen Wegen, die wir finden können.«
»Brand ist krank.«
»Stimmt.«
Der Schnelle Ben sah, dass die dunklen Augen der Hexe plötzlich aufleuchteten. Er dachte mehrere Herzschläge lang nach und fragte dann: »Warum schläft Brand?«
»Es ist noch nicht die rechte Zeit für diese Frage. Stell eine andere.«
Der Magier runzelte die Stirn, starrte ins Leere. »Arbeiter und Soldaten … das hört sich so an, als ob wir Sklaven wären.«
»Sie verlangt nichts. Was ihr tut, tut ihr ganz allein für euch. Ihr arbeitet, um euch euren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr kämpft, um ihn euch zu erhalten oder um mehr zu bekommen. Ihr strengt euch an, um Rivalen zu vernichten. Ihr kämpft aus Furcht und Hass und Boshaftigkeit und Ehre und Loyalität und was weiß ich für anderen Gründen, die ihr euch zusammenreimt. Doch alles was ihr tut, dient ihr … und es ist ganz egal, was ihr tut. Sie ist nicht einfach gütig, Adaephon Delat, sondern amoralisch. Wir können blühen und gedeihen, oder wir können uns selbst vernichten, das spielt für sie keine Rolle – sie wird einfach eine neue Brut gebären, und alles beginnt von neuem.«
»Du sprichst von dieser Welt als einem physikalischen Ding, das von Naturgesetzen abhängig ist. Ist das alles, was sie ist?«
»Nein. Letztlich definieren die Gedanken und die Sinne all dessen, was lebt, das, was wirklich ist – was für uns wirklich ist, heißt das.«
»Das ist eine Tautologie.«
»Das ist es.«
»Ist Brand die Ursache für unsere Wirklichkeit?«
»Ah, du windest dich seitwärts wie die Wüstenschlange, die du in Wahrheit bist! Stelle deine Frage!«
»Warum schläft Brand?«
»Sie schläft … um zu träumen.«
Lange sagte der Schnelle Ben nichts. Als er schließlich der alten Frau in die Augen blickte, sah er in ihnen die Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. »Sie ist krank«, wiederholte er.
Die Hexe nickte. »Sie fiebert.«
»Und ihre Träume …«
»Sie liegt im Delirium, mein Junge. Träume werden zu Albträumen.«
»Ich muss eine Möglichkeit finden, diese Infektion zu beseitigen, denn ich glaube nicht, dass das Fieber allein ausreichen wird. Wenn es überhaupt eine Wirkung hat, dann eher eine gegenteilige.«
»Dann denke darüber nach, teurer Arbeiter.«
»Es könnte sein, dass ich Hilfe brauche.«
Die Hexe streckte eine schrumpelige Hand aus, die Handfläche nach oben gedreht.
Der Schnelle Ben griff unter sein Hemd und zog einen vom Wasser rundgeschliffenen Kieselstein heraus. Er ließ ihn in ihre Hand fallen.
»Wenn die Zeit kommt, dann rufe nach mir, Adaephon Delat.«
»Das werde ich tun. Ich danke dir, Herrin.« Er legte einen kleinen Lederbeutel voller Goldräte zwischen ihnen auf den Boden. Die Hexe stieß ein gackerndes Gelächter aus. Der Schnelle Ben zog sich zurück.
»Und jetzt mach die Tür zu – ich mag’s lieber kalt!«
Als der Magier das Gässchen entlangschlenderte, ließ er seine Gedanken umherschweifen, und wie von Sturmböen getragen, huschten sie hierhin und dorthin; die meisten der Luftströme waren dabei falsch und ohne jede Bedeutung. Ein Gedanke allerdings ließ ihn nicht wieder los; zunächst erschien er ihm bedeutungslos, weiter nichts als eine Merkwürdigkeit: Sie mag es lieber kalt. Merkwürdig. Die
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