SdG 05 - Der Tag des Sehers
vereinfacht.«
»Nun, das Ganze ist sowieso belanglos, denn er ist ja verschwunden.«
»Er ist nicht tot.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Also, Murillio, warten wir bis Capustan?«
»Einverstanden. Und wenn wir erst mal da sind, machen wir’s wie Kruppe und Silberfuchs. Wir stehlen uns davon. Verschwinden. Beim Vermummten, ich glaube nicht einmal, dass jemand es bemerken, geschweige denn sich Sorgen machen wird.«
Coll zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Murillio, wenn wir jemanden finden – jemanden, der oder die etwas für die Mhybe tun kann – nun, das wird wahrscheinlich teuer.«
Der junge Mann zuckte die Schultern. »Ich hatte schon öfter Schulden.«
»Genau wie ich. Wir sollten uns nur darüber im Klaren sein, dass es möglicherweise unseren finanziellen Ruin bedeuten wird – und alles, was dabei herauskommt, ist ein angenehmeres Ende ihres Lebens.«
»Das klingt nach einem guten Geschäft.«
Coll bat nicht um weitere Bekräftigungen für den Entschluss seines Freundes. Dafür kannte er Murillio zu gut. Tja, es ist ja schließlich nur Geld, oder? Egal wie viel, ist es immer noch ein fairer Tausch, um die Leiden einer alten Frau zu lindern. Auf die eine oder die andere Weise. Und zumindest werden wir uns um sie gekümmert haben – auch wenn sie nie wieder erwacht und daher gar nichts von dem mitbekommt, was wir tun. Tatsächlich ist es vielleicht sogar besser so. Sauberer. Einfacher …
Das Heulen hallte wider wie in einer gewaltigen Höhle. Es wurde zurückgeworfen, vermischte sich mit dem ursprünglichen Geräusch, bis aus dem klagenden Ruf ein Chor geworden war. Unzählige tierische Stimmen, Stimmen, die jedes Gefühl von Zeit raubten, die die Ewigkeit zu einem einzigen Jetzt machten.
Die Stimmen des Winters.
Doch sie kamen aus dem Süden, von dort, wo die Tundra endete; wo die Bäume nicht länger nur knöchelhoch, sondern – immer noch windzerzaust, dürr und ausgefranst – höher als sie waren, so dass sie ungesehen vorbeiziehen konnte und in der kahlen Landschaft nicht mehr schon von weitem auszumachen war.
Artgenossen antworteten auf das Heulen. Die Tiere, die immer noch auf ihrer Spur waren, sie jetzt jedoch verloren, als sie zwischen die dunklen Tannen schlüpfte; der sumpfige Boden saugte hungrig an ihren bloßen Füßen, das schwarzfleckige Wasser schwappte schlammig und trübe um sie herum, als sie durch die kalten Teiche watete. Riesige Moskitos tanzten in Schwärmen um sie herum, mindestens doppelt so groß wie die, die sie aus der Rhivi-Ebene kannte. Schwarzfliegen krabbelten ihr in die Haare, stachen sie in die Kopfhaut. Runde Egel bedeckten wie schwarze Punkte ihre Gliedmaßen.
Auf ihrer halb blinden Flucht war sie gegen ein schaufeiförmiges Geweih gestolpert, das in Augenhöhe in der Gabelung zweier Bäume klemmte. Aus dem Riss unterhalb ihrer rechten Wange, den ihr eine Sprosse beigebracht hatte, sickerte immer noch Blut.
Das, was sich da nähert, ist mein Tod. Das gibt mir Kraft. Ich schöpfe sie aus jenem letzten Moment, und jetzt können sie mich nicht erwischen.
Sie können mich nicht erwischen.
Die Höhle lag direkt vor ihr. Sie konnte sie noch nicht sehen, und nichts in der Landschaft wies auf eine oder mehrere Höhlen hin, doch das hallende Heulen klang jetzt näher.
Das Tier ruft mich. Es ist ein Versprechen des Todes, glaube ich, denn es gibt mir diese Kraft. Es ist mein Sirenenruf -
Dunkelheit sank rings um sie herab, und sie wusste, dass sie angekommen war. Die Höhle war von einer Seele erschaffen worden – von einer Seele, die sich in sich selbst verloren hatte.
Die Luft war feucht und kühl. Keine Insekten summten oder ließen sich auf ihrer Haut nieder. Der Steinboden unter ihren Fußsohlen war trocken.
Sie konnte nichts sehen, und das Heulen war verstummt.
Als sie vorwärts schritt, wusste sie, dass ihre Gedanken sich bewegten, nur ihre Gedanken, dass sie ihren Körper verließen, dass sie forschten und nach dem angeketteten Tier suchten.
»Wer?«
Die Stimme erschreckte sie. Die Stimme eines Mannes, gedämpft, angespannt vor Schmerzen.
»Wer kommt da?«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und sagte einfach die ersten Worte, die ihr in den Sinn kamen. »Ich bin es.«
»Wer ist›ich‹?«
»Eine … eine Mutter.«
Das Lachen des Mannes klang rau. »Also wieder ein Spiel? Du hast keine Worte, Mutter. Du hast niemals welche gehabt. Du hast Winseln und Schreie, du hast ein warnendes Knurren, du
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