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SdG 05 - Der Tag des Sehers

SdG 05 - Der Tag des Sehers

Titel: SdG 05 - Der Tag des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Erikson
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bist. Noch nicht.«
    »Auch mein Kind hat mich zu einer Gefangenen gemacht«, flüsterte die Mhybe. »Ist das der Fluch, der alle Mütter ereilt?«
    »Es ist der Fluch der Liebe.«
    Ein schwaches Heulen ertönte in der Dunkelheit.
    »Hörst du das?«, fragte der Mann. »Das ist meine Gefährtin. Sie kommt. Ich habe so lange gesucht. So lange. Und jetzt, jetzt kommt sie.«
    Die Stimme hatte bei diesen Worten einen tieferen Klang angenommen. Es schien nicht mehr die Stimme des Mannes zu sein.
    »Und jetzt«, fuhr die Stimme fort, »jetzt antworte ich ihr.«
    Sein Heulen fetzte durch sie hindurch, warf ihren Geist zurück. Aus der Höhle, aus dem wuchernden Wald, wieder hinaus auf die flache Ebene der Tundra.
    Die Mhybe schrie.
    Ihre Wölfe antworteten. Triumphierend.
    Sie hatten sie wieder einmal gefunden.
    Eine Hand berührte ihre Wange. »Bei den Göttern, das war ja grauenhaft.«
    Eine vertraute Stimme, doch sie konnte sie nicht einordnen.
    Ein anderer Mann sprach. »Hier ist mehr am Werk, als wir verstehen, Murillio. Schau dir ihre Wange an.«
    »Sie hat sich gekratzt – «
    »Sie kann nicht einmal mehr die Arme heben, mein Freund. Und schau, ihre Fingernägel sind sauber. Diese Wunde hat sie sich nicht selbst beigebracht.«
    »Aber wer hat es dann getan? Ich bin die ganze Zeit hier gewesen. Nicht einmal die alte Rhivi hat sie besucht, seit ich das letzte Mal nach ihr gesehen habe – und da hatte sie noch keine Wunde.«
    »Wie gesagt, hier liegt ein Geheimnis verborgen …«
    »Coll, mir gefällt das nicht. Diese Albträume – könnten sie wahr sein? Was auch immer sie in ihren Träumen verfolgt – könnte es in der Lage sein, sie tatsächlich zu verletzen?«
    »Wir sehen ja den Beweis – «
    »Ja, obwohl ich meinen eigenen Augen kaum traue. Coll, so kann es nicht weitergehen.«
    »Einverstanden, Murillio. Bei der ersten Gelegenheit in Capustan …«
    »Bei der allerersten. Lass uns den Wagen an den Anfang des Trosses fahren – je eher wir die Straßen erreichen, desto besser.«
    »Ganz wie du meinst.«

Kapitel Sieben
     
    Es ist eine uralte Geschichte. Von zwei Göttern aus der Zeit, bevor es Männer und Frauen gab. Eine Geschichte von Sehnsucht und Liebe und Verlust, von zwei Tieren, die dazu verdammt waren, durch die Jahrhunderte zu wandern.
    Eine Geschichte über Sitten, erzählt ohne jede Absicht, eine Lösung zu bieten. Ihre Bedeutung, geneigte Leser, liegt nicht in einem herzerwärmenden Schluss, denn so etwas ist in dieser Welt unerreichbar.
    Wer hätte sich ein solches Ende vorstellen können?
     
    Winterliebe
    Silbaratha
     
    D
    as Herz des riesigen Palasts schmiegte sich tief in die Klippe. Wogen, die im Osten der Bucht geboren worden waren, krachten gegen den zackigen Fuß der Klippe, schleuderten Gischt in die Luft und färbten die Oberfläche des Felsens dunkel. Gleich hinter den rauen Zacken der zerklüfteten Küste stürzten die Wasser der Bucht von Korall in tintige Schwärze, unermesslich tief. Der Hafen der Stadt war kaum mehr als ein enger, krummer Einschnitt auf der Leeseite der Klippe, ein bodenloser Riss, der sich zu einem Spalt verbreiterte und die Stadt beinahe in zwei Hälften spaltete. Es war ein Hafen ohne Anlegestege. Die glatten Oberflächen der Felswände waren zu langen Piers ausgehöhlt worden, die von erhöhten Fußwegen gekrönt waren. An der Hochwasserlinie waren Vertäuungsringe in den Stein getrieben worden. Breite Bahnen aus dickem Netzwerk, doppelt so hoch wie der Mast eines Hochseehandelsseglers, spannten sich von der Hafeneinfahrt bis zu seinem Ende über die gesamte Wasserfläche. Dort, wo kein Anker den Grund des Fjords erreichen konnte und das Ufer keinen Strand und kein Flachwasser bot, wurden die Anker eines Schiffs aufwärts gezogen. Die Kattankermänner, wie sie genannt wurden – jene seltsame Gruppe von Arbeitern, fast schon ein eigener Stamm, die mit ihren Frauen und Kindern in Hütten auf dem Netzwerk lebten und deren einzige Aufgaben das Hochwinden der Anker und das Festmachen der Trossen waren –, hatten diese schlichte Arbeit zu einer Kunst der anmutigen Bewegungen gemacht.
    Von der breiten, dem Meer zugewandten Brustwehr des Palasts aus sahen die mit Seehundfellen gedeckten, aus Treibholz gebauten Hütten der Kattankermänner wie eine Hand voll hingeworfener brauner Kiesel und Strandgut aus, in ein Netzwerk geknotet, das aus der Ferne dünn wie Fäden wirkte. Keine Gestalten kletterten zwischen den Hütten herum, kein Rauch stieg aus den rechteckigen

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