SdG 05 - Der Tag des Sehers
Vermummten.
Bei den marmornen Eiern des Vermummten auf einem Amboss …
Coll schritt den sanften Hang hinab auf den Wagen der Mhybe zu. Dreißig Schritt zu seiner Rechten waren die letzten Gespanne der Trygalle-Handelsgilde; eine Gruppe Anteilseigner würfelte ganz in der Nähe auf einer Zeltplane. In der Entfernung ritten Boten hin und her; sie kamen von der Hauptarmee – die etwa eine Länge entfernt im Südwesten lagerte – oder waren dorthin unterwegs.
Murillio saß mit dem Rücken an eines der großen, festen Holzräder gelehnt und hatte die Augen geschlossen.
Er öffnete sie, als der Ratsherr neben ihm stehen blieb.
»Wie geht es ihr?«, fragte Coll, während er sich neben Murillio hinhockte.
»Es ist anstrengend«, erwiderte Murillio, »zuzusehen, wie sie unter diesen Albträumen leidet – sie nehmen kein Ende. Erzähle mir, was es Neues gibt.«
»Nun, seit gestern hat niemand mehr Kruppe oder Silberfuchs gesehen; genauso wenig wie die beiden Seesoldatinnen, die der Tochter der Mhybe den Rücken freigehalten hatten. Was die Schlacht angeht …« Coll hob den Kopf, schaute blinzend nach Südwesten, »Sie war schnell vorbei. Anomander Rake hat seine Wechselgänger-Form angenommen. Ein einziger Überflug, und die Tenescowri sind voller Panik davongerannt. Anaster wurde gefangen genommen und … äh, die Magier in seinen Diensten wurden … hingerichtet.«
»Klingt unangenehm«, kommentierte Murillio.
»Nach allem, was ich gehört habe, war es das auch. Wie auch immer, die Bettler fliehen zurück nach Capustan; ich bezweifle allerdings, dass man sie dort willkommen heißen wird. Diese armen Schweine haben wirklich ein trauriges Schicksal.«
»Man hat sie vergessen, oder?«
Coll musste nicht genauer nachfragen. »Das ist zwar schwer zu schlucken, aber ja, es scheint so zu sein.«
»Sie ist nicht länger von Nutzen und wird daher fallen gelassen.«
»Ich klammere mich an die feste Überzeugung, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist, Murillio.«
»Wir sind die Zeugen. Wir sind nur hier, um ihren Niedergang zu beaufsichtigen. Nur deshalb, Coll. Kruppes Zusicherungen sind nicht mehr als heiße Luft. Und du und ich, wir sind Gefangene dieser unwillkommenen Umstände – genauso, wie sie es ist, genauso wie die verwirrte Rhivi, die immer kommt, um sie zu kämmen.«
Coll drehte sich langsam um und musterte seinen alten Freund. »Was schlägst du vor – was sollen wir tun?«, fragte er.
Schulterzuckend knurrte Murillio: »Was tun die meisten Gefangenen früher oder später?«
»Sie versuchen zu fliehen.«
»Stimmt.«
Coll sagte ein paar Herzschläge lang nichts, dann seufzte er. »Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anstellen? Würdest du sie einfach verlassen? Sie allein zurück – «
»Natürlich nicht! Nein, wir nehmen sie mit.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht! Irgendwohin! So lange es weit weg von hier ist.«
»Und wie weit wird sie gehen müssen, um ihren Albträumen zu entfliehen?«
»Wir müssen nur jemanden finden, der willens ist, ihr zu helfen, Coll. Jemanden, der ein Leben nicht nur nach Zweckdienlichkeit und möglichem Nutzen beurteilt.«
»Dies ist eine leere Ebene, Murillio.«
»Ich weiß.«
»Wohingegen in Capustan …«
Die Augen des jüngeren Mannes verengten sich. »Nach allem, was man hört, ist die Stadt kaum mehr als ein Trümmerhaufen.«
»Es gibt Überlebende. Darunter auch Priester.«
»Priester!«, schnaubte Murillio. »Selbstbedienungs-Vertrauenskünstler, Betrüger der Leichtgläubigen, Täuscher der – «
»Murillio, es gibt auch Ausnahmen – «
»Bis jetzt ist mir noch keine begegnet.«
»Aber vielleicht diesmal. Wenn wir dem allen hier tatsächlich – mit ihr – entfliehen wollen, dann ist die Chance, in Capustan Hilfe zu finden, größer als hier draußen in dieser Einöde.«
»Saltoan – «
»Ist mehr als eine Woche entfernt, mit dem Wagen sogar noch länger. Davon abgesehen ist die Stadt der Gestalt gewordene Nabel des Vermummten. Ich würde noch nicht einmal Rallick Noms axtschwingende Mutter mit nach Saltoan nehmen.«
Murillio seufzte. »Rallick Nom.«
»Was ist mit ihm?«
»Ich wollte, er wäre hier.«
»Warum?«
»Dann könnte er jemanden töten. Irgendjemanden. Der Kerl ist ein Wunder, wenn es darum geht, die Dinge zu vereinfachen.«
Coll lachte barsch. »›Die Dinge zu vereinfachen‹ Warte nur, bis ich ihm das erzähle. He, Rallick, du bist kein Assassine, weißt du, du bist einfach nur ein Mann, der die Dinge
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