SdG 05 - Der Tag des Sehers
Schornsteinen auf. Hätte er das Auge eines Adlers gehabt, wäre es Toc dem Jüngeren leicht gefallen, die salzverkrusteten Leichen hier und dort im Netz hängen zu sehen; so konnte er nur dem Domänenser glauben, dessen Worten zufolge die kleinen, dunklen Flecken tatsächlich Leichen waren.
Es kamen keine Handelsschiffe mehr nach Korall. Die Kattankermänner waren verhungert. Alle Männer, Frauen und Kinder. Ein legendäres und in der Stadt einzigartiges Volk war ausgelöscht worden.
Die Bemerkung war in einem distanzierten Tonfall gemacht worden, doch Toc hatte etwas Unterschwelliges in den Worten des namenlosen Kriegerpriesters gespürt. Der hoch gewachsene Mann stand dicht neben ihm, hielt mit einer Hand Tocs linken Arm oberhalb des Ellbogens gepackt. Um ihn daran zu hindern, sich von der Klippe zu stürzen. Um ihn aufrecht zu halten. Was als die eine Aufgabe begonnen hatte, war schnell zu der anderen geworden. Diese Atempause, bevor er wieder in die Klauen der Matrone zurückkehren musste, war nur von kurzer Dauer. In dem zerschmetterten Körper des Malazaners war keine Kraft mehr. Muskeln waren verkümmert. Verbogene Knochen und steife Gelenke gaben ihm die Beweglichkeit von trockenem Holz. Seine Lunge war voller Flüssigkeit, die ihn beim Einatmen keuchen ließ, während das Ausatmen wie milchiges Gurgeln klang.
Der Seher hatte gewollt, dass er es sah. Dass er Korall sah. Den festungsgleichen Palast – oft angegriffen, von Kriegsschiffen aus Elingarth und Piratenflotten, aber niemals eingenommen. Seinen gewaltigen Ring aus Magiern, die tausend oder mehr K’ell-Jäger, die Elitelegionen seiner Hauptarmee. Die Niederlagen im Norden bedeuteten ihm wenig; tatsächlich würde er Setta, Lest und Maurik aufgeben; er würde die Invasoren ihrem langen, erschöpfenden Marsch überlassen – durch verbrannte Lande, die keinerlei Nahrung boten, in denen selbst die Brunnen vergiftet worden waren. Und was die Feinde im Süden betraf, so gab es nun einen breiten Streifen raue See, um ihren Vormarsch zu behindern – einen Wasserstreifen, den der Seher mit zerschmetterten Eisbergen gefüllt hatte. Und am fernen Ufer gab es sowieso kein einziges Boot. Eine Reise ans westliche Ende von Ortnals Kluft würde Monate dauern. Sicher, der T’lan Imass konnte das Wasser als aus den Wogen geborener Staub überqueren. Doch er würde dabei die ganze Zeit gegen heftige Strömungen kämpfen müssen – Strömungen, die mit kalten Wasserschichten in die Tiefe sanken, die in unterseeischen Flüssen ostwärts strömten, hinaus ins offene Meer.
Der Seher war überaus zufrieden, berichtete der namenlose Domänenser. So erfreut, dass er Toc die vorübergehende Gnade gewährte, der Umarmung der Mutter zu entrinnen.
Der kalte, salzige Wind peitschte ihm ins Gesicht, riss an seinen wirren, langen schmutzigen Haaren. Seine Kleider waren kaum mehr als verkrustete Fetzen – der Domänenser hatte ihm seinen Umhang gegeben, den Toc wie eine Decke um sich geschlungen hatte.
Diese Geste war es gewesen, die dem Malazaner gezeigt hatte, dass in dem Mann an seiner Seite noch ein Fünkchen Menschlichkeit glomm.
Diese Entdeckung hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben.
Klarheit war in seinem Innern wiedergeboren worden, die detaillierten Erzählungen des Domänensers über die Kämpfe im Süden hatten dazu beigetragen. Vielleicht war es auch nur die letzte, überzeugendste Selbsttäuschung seines Wahnsinns, aber Toc klammerte sich dennoch daran. Er starrte nach Süden über das windgepeitschte Meer. Die gebirgige Küstenlinie auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht war kaum zu erkennen.
Sie hatten sie mittlerweile bestimmt schon erreicht. Es konnte gut sein, dass sie am Strand standen und düster zu ihm herüberstarrten. Baaljagg würde nicht entmutigt sein. In ihr verbarg sich eine Göttin, die sie weitertrieb, immer weiter, auf der Suche nach ihrem Gefährten.
Der Gefährte, der sich in mir versteckt. Wir sind Seite an Seite gewandert und hatten keine Ahnung von den Geheimnissen, die in uns verborgen sind. Welch brutale Ironie …
Und vielleicht würde auch Tool sich nicht beirren lassen. Zeit und Entfernungen bedeuteten dem T’lan Imass nichts. Dasselbe galt zweifellos auch für die drei Seguleh – sie hatten schließlich immer noch ihre Botschaft zu überbringen, die Herausforderung ihres Volkes zu einem Krieg.
Aber Lady Missgunst …
Eine Herrin des Abenteuers, verführt von ihrem Spürsinn – nun, jetzt war sie wütend. Das
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