SdG 05 - Der Tag des Sehers
hast hunderttausend wortlose Geräusche, um deine Not zu beschreiben – das ist deine Stimme, und ich kenne sie gut.«
»Eine Mutter.«
»Lass mich in Ruhe. Ich bin jenseits von Spott und Hohn. Ich kreise an meiner eigenen Kette, hier in meinen Gedanken. Dieser Ort ist nicht für dich. Vielleicht glaubst du, dadurch, dass du ihn gefunden hast, meine letzte Verteidigungslinie überwunden zu haben. Du glaubst, du weißt alles von mir. Aber du hast hier keine Macht. Weißt du, ich stelle mir vor, mein eigenes Gesicht zu sehen, wie in einem Spiegel.
Aber es ist das falsche Auge – das falsche Auge starrt mich an. Und was noch schlimmer ist, es ist noch nicht einmal menschlich. Es hat lange gedauert, bis ich es begriffen habe, aber jetzt habe ich es kapiert.
Du und deine Art, ihr habt mit dem Winter gespielt. Omtose Phellack. Aber ihr habt ihn nie richtig verstanden. Den wirklichen Winter, den Winter, der nicht auf Zauberei basiert, sondern von der abkühlenden Erde geboren wird, der schwächer werdenden Sonne, den kürzeren Tagen und längeren Nächten. Das Gesicht, das ich vor mir sehe, Seher, ist das Gesicht des Winters. Das Gesicht eines Wolfs. Das Gesicht eines Gottes.«
»Mein Kind kennt Wölfe«, sagte die Mhybe.
»Ja, das tut er in der Tat.«
»Nicht er. Sie. Ich habe eine Tochter – «
»Die Regeln durcheinander zu bringen, macht das ganze Spiel zunichte, Seher. Nachlässig – «
»Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich bin … ich bin eine alte Trau. Von den Rhivi. Und meine Tochter wünscht sich meinen Tod. Aber es soll nicht einfach ein Hinüberdämmern sein. Oh nein. Sie hat Wölfe auf mich gehetzt. Damit sie meine Seele zerreißen. Sie suchen meine Träume heim – aber hier bin ich ihnen entkommen. Ich bin hierher gekommen, um ihnen zu entfliehen.«
Der Mann lachte erneut. »Der Seher hat dies zu meinem Gefängnis gemacht. Und ich weiß, dass es so ist. Du bist die Verlockung des Wahnsinns, der Stimmen von Fremden in meinem Kopf. Ich trotze dir. Hättest du etwas von meiner richtigen Mutter gewusst, hättest du vielleicht Erfolg gehabt, doch es ist dir niemals gelungen, meinen Verstand vollständig zu vergewaltigen. Hier ist ein Gott, Seher, und er hockt vor meinen Geheimnissen. Mit gefletschten Fängen. Nicht einmal deine teure Mutter, die mich so fest umklammert, wagt es, ihn herauszufordern. Und was dein Omtose Phellack angeht – er hätte sich dir am Tor jenes Gewirrs vor langer Zeit entgegengestellt. Er hätte es dir verweigert, Jaghut. Euch allen. Aber er war verloren. Verloren. Doch du sollst wissen, dass ich ihm helfe. Ich helfe ihm, sich selbst zu finden. Er wird sich seiner allmählich bewusst, Seher.«
»Ich verstehe dich nicht«, erwiderte die Mhybe; sie taumelte, als die Verzweiflung sie allmählich überkam. Dies war nicht der Ort, den zu finden sie gehofft hatte. Stattdessen war sie in das Gefängnis eines anderen geflohen, an einen Ort persönlichen Wahnsinns. »Ich bin hierher gekommen, um den Tod zu finden – «
»Du wirst ihn hier nicht finden, nicht in diesen ledrigen Armen.«
»Ich fliehe vor meiner Tochter – «
»Flucht ist eine Illusion. Selbst Mutter hier begreift das. Sie weiß, dass ich nicht ihr Kind bin, aber sie kann nicht anders. Sie hat sogar noch Erinnerungen an eine Zeit, als sie tatsächlich eine Matrone war, die Mutter einer echten Brut. Kinder, die sie geliebt haben, und andere Kinder – die sie verraten haben. Und sie zurückgelassen haben, damit sie bis in alle Ewigkeit leidet.
Sie hat nie damit gerechnet, fliehen zu können. Doch als sie schließlich feststellte, dass sie frei war, musste sie entdecken, dass ihre Welt zu Staub geworden war. Ihre Kinder waren schon lange tot, lagen begraben in ihren Gräbern – denn ohne eine Mutter sind sie dahingewelkt und gestorben. Sie hat sich dann an dich gehalten, Seher.
An ihren Adoptivsohn. Und hat dir deine Macht gezeigt, so dass sie sie benutzen konnte. Um ihre Welt neu zu erschaffen. Sie hat ihre toten Kinder wiedererweckt. Sie hat sie die Stadt wieder aufbauen lassen. Aber es war alles falsch, die Selbsttäuschung konnte sie nicht wirklich täuschen, konnte sie nur in den Wahnsinn treiben.
Und das war der Augenblick«, fuhr er fort, »in dem du dich ihrer bemächtigt hast. Und so hat ihr Kind einmal mehr eine Gefangene aus ihr gemacht. Es scheint, als gäbe es keine Möglichkeit, den Pfaden unseres Lebens zu entfliehen. Das ist eine Wahrheit, der du nicht ins Gesicht zu sehen bereit
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