SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
zerstört.
Doch das erklärte nicht das Frösteln, das ihn begleitete, während er unter der sengenden Sonne dahinschritt.
Die Schlangen wanden sich in ihrer Grube, und er war mittendrin.
Die alten Narben, Überbleibsel zu enger Fesseln, ließen seine Handgelenke und Fußknöchel wie zerhackte Baumstämme aussehen, und jeder dunkle Streifen, der seine Glieder umgab, erinnerte ihn an jene Zeit … an jede Schelle, die sich geschlossen hatte, jede Kette, die ihn festgehalten hatte. In seinen Träumen erhob sich der Schmerz erneut wie ein lebendiges Wesen, wob mit hypnotischer Macht ein Durcheinander aus wirren, beunruhigenden Szenen.
Der alte Malazaner ohne Hände mit der schimmernden, beinahe massiv wirkenden Tätowierung hatte trotz seiner Blindheit nur allzu klar gesehen, hatte die sich dahinschleppenden Geister gesehen, den im Wind ächzenden Zug aus Toten, die ihn nun Tag und Nacht heimsuchten. Sie stöhnten laut genug in Toblakais Geist, um Urugals Stimme auszulöschen, und waren nah genug, um das steinerne Gesicht seines Gottes mit den zahllosen Masken sterblicher Gesichter zu überdecken – und jedes einzelne war von jener Agonie und Furcht verzerrt, die der Augenblick des Todes hervorbrachte. Doch der alte Mann hatte es nicht begriffen, hatte es nicht ganz begriffen. Die Kinder unter den Opfern – Kinder im Sinne von gerade erst Geborenen, wie die Tiefländer das Wort gebrauchten – waren nicht dem Blutholz-Schwert Karsa Orlongs zum Opfer gefallen. Sie waren allesamt Nachkommen, die es niemals geben würde, stammten aus Blutlinien, die in der mit Trophäen voll gestopften Höhle der Geschichte des Teblor durchtrennt worden waren.
Toblakai. Ein Name, der von vergangenem Ruhm kündete, von einer Rasse von Kriegern, die neben sterblichen Imass gestanden hatten, neben Jaghut mit kalten Gesichtern und dämonischen Forkrul Assail. Ein Name, unter dem Karsa Orlong nun bekannt war, als ob er der alleinige Erbe älterer Herrscher in einer jungen, rauen Welt wäre. Vor vielen Jahren hätte ein solcher Gedanke seine Brust mit wildem, blutrünstigem Stolz erfüllt. Nun quälte er ihn wie ein Wüstenhusten und schwächte ihn bis auf die Knochen. Karsa sah, was sonst niemand sah – dass sein neuer Name nichts als blanke, blendende Ironie war.
Die Teblor waren tief gesunken seit der Zeit der Thelomen Toblakai. Sie waren nur noch körperlich Abbilder ihrer Ahnen, knieten wie Narren vor sieben grob in die Klippen gehauenen Gesichtern und lebten in Tälern, in denen jeder Horizont praktisch in Reichweite lag. Sie waren Opfer brutaler Unwissenheit – für die niemand anderes verantwortlich gemacht werden konnte – und von einem Netz aus Täuschungen umgeben; doch mit denen, die dieses Netz gewoben hatten, würde Karsa Orlong irgendwann einmal endgültig abrechnen.
Ihm und seinem Volk war Unrecht zugefügt worden, und der Krieger, der nun zwischen den staubigen weißen Stämmen eines vor langer Zeit abgestorbenen Obstgartens dahinschritt, würde eines Tages die passende Antwort darauf erteilen.
Aber der Feind hatte so viele Gesichter …
Selbst wenn er allein war – so wie jetzt –, sehnte er sich nach Einsamkeit. Doch sie wurde ihm verwehrt. Das Rasseln der Ketten hörte niemals auf, die widerhallenden Schreie der Getöteten erklangen unaufhörlich. Noch nicht einmal die geheimnisvolle, doch spürbare Macht der Raraku schenkte ihm eine Pause – die Macht der Raraku selbst, nicht der Wirbelwind. Toblakai wusste, dass der Wirbelwind im Vergleich zu der uralten Präsenz der Heiligen Wüste nichts weiter als ein Kind war. Er war ihm vollkommen gleichgültig. Die Raraku hatte viele solcher Stürme gekannt, doch sie wetterte sie ab wie alle Dinge, mit ihrer losen Haut aus Sand und der soliden Treue der Steine. Die Raraku war ihr eigenes Geheimnis, das verborgene Urgestein, das den Krieger an diesen Ort fesselte. Und diese Wüste, glaubte Karsa, würde ihm seine eigene Wahrheit zeigen.
Er hatte vor der Wiedergeborenen Sha’ik gekniet, vor all diesen Monaten. Vor der jungen Frau mit dem malazanischen Akzent, die zu ihnen getorkelt kam und ihr tätowiertes, handloses Schoßtier mitgeschleppt hatte. Hatte vor ihr gekniet, nicht als Sklave, nicht aus wiedererwachtem Glauben, sondern aus Erleichterung. Erleichterung darüber, dass das Warten vorbei war, dass er Leoman von jenem Ort des Versagens und des Todes würde wegzerren können. Die Altere Sha’ik war getötet worden, als sie unter ihrem Schutz gestanden hatte.
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