SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
traumlosen Schlaf zu bescheren. Der Tee verlor allmählich seine Wirkung, oder genauer, Heboric begann, sich an seine Wirkung zu gewöhnen.
Das Gesicht aus Stein nickte ihm zu.
Das Gesicht, das zu sprechen versuchte.
Jemand kratzte an der Zeltklappe, dann wurde sie auch schon beiseite gezogen.
Felisin kam herein. »Oh, du bist noch wach. Gut, das macht es einfacher. Meine Mutter will dich sehen.«
»Jetzt gleich?«
»Ja. In der Welt da draußen ist allerhand geschehen. Es muss über Konsequenzen nachgedacht werden. Mutter braucht deine Weisheit.«
Heboric warf einen bedauernden Blick auf die Tontasse mit dampfendem Tee in seinen unsichtbaren Händen. Kalt war er kaum mehr als Wasser mit Geschmack. »Ich bin an dem, was draußen in der Welt geschieht, nicht sonderlich interessiert. Wenn sie weise Worte von mir hören will, wird sie enttäuscht werden.«
»Das habe ich ihr auch gesagt«, erklärte Felisin die Jüngere, ein heiteres Glitzern in den Augen. »Doch Sha’ik besteht darauf.«
Sie half ihm, sich einen Umhang umzulegen, und führte ihn nach draußen; eine ihrer Hände ruhte leicht wie eine Kapmotte auf seinem Rücken.
Die Nacht war bitterkalt, schmeckte nach sich setzendem Staub. Schweigend schritten sie die Gänge entlang, die sich zwischen den Yurten dahinwanden.
Sie kamen an dem Podest vorbei, auf dem die Wiedergeborene Sha’ik gestanden hatte, als sie sich zum ersten Mal an die Menge gewandt hatte, und schritten dann zwischen den halb verfallenen Torpfosten hindurch, die zu dem großen Zelt mit den vielen Innenräumen führten, das der Erwählten als Palast diente. Es gab keine Wachen, denn die Präsenz der Göttin war greifbar, ein Druck in der kalten Luft.
Im ersten Raum hinter der Zeltklappe war es kaum wärmer als draußen, doch mit jedem Vorhang, den sie teilten und den sie hinter sich ließen, stieg die Temperatur. Der Palast war ein Labyrinth aus isolierenden Zimmern; die meisten waren unmöbliert und unterschieden sich kaum voneinander. Ein Assassine, der irgendwie der Aufmerksamkeit der Göttin entgangen war und es bis hierher geschafft hatte, würde sich schnell verirren. Der Weg dorthin, wo Sha’ik residierte, folgte einer ganz eigenen, qualvoll sich windenden Route. Denn ihre Gemächer lagen nicht im Zentrum, nicht im Herzen des Palasts, wie man hätte vermuten können.
Aufgrund seines schlechten Sehvermögens und der endlosen Wendungen und Abzweigungen war Heboric schnell verwirrt; er hatte die genaue Lage ihres Ziels noch nie herausgefunden. Er fühlte sich an ihre Flucht aus den Minen erinnert, an die mühsame Reise zur Westküste der Insel – Baudin war immer vorneweg gegangen, Baudin, dessen Orientierungssinn sich als unfehlbar, ja, fast schon als unheimlich erwiesen hatte. Ohne ihn wären Heboric und Felisin gestorben.
Eine echte Kralle. Ach, Tavore, es war nicht falsch, dein Vertrauen in ihn zu setzen. Es war Felisin, die nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte. Du hättest das vorhersehen müssen. Na ja, Schwester, du hättest eine ganze Menge vorhersehen müssen …
Aber das hier nicht.
Sie betraten den großen, quadratischen Raum mit der niedrigen Decke, den die Erwählte – Felisin die Ältere, Kind des Hauses Paran – zu ihrem Thronraum gemacht hatte. Und tatsächlich gab es hier eine Estrade, die einst Sockel einer Feuerstelle gewesen war, auf der ein mit einer breiten Rückenlehne ausgestatteter, gepolsterter Stuhl aus gebleichtem Holz stand. Bei Beratungen wie der heutigen setzte sich Sha’ik stets auf diesen Behelfsthron; sie verließ ihn nie, so lange ihre Ratgeber anwesend waren, nicht einmal, um die vergilbten Karten zu prüfen, die die Kommandanten auf dem mit Fellen ausgelegten Fußboden ausbreiten mussten. Abgesehen von Felisin der Jüngeren, war die Erwählte die kleinste Person im Raum.
Heboric fragte sich, ob die Altere Sha’ik unter einer ähnlichen Unsicherheit gelitten hatte. Er bezweifelte es.
Der Raum war voll; von den Anführern der Armee und Sha’iks ausgewählten Beratern fehlten nur Leoman und Toblakai. Es gab keine weiteren Stühle, doch dafür lehnten an drei von den vier Zeltwänden Kissen und Polster, auf denen die Kommandanten Platz genommen hatten. Mit Felisin an seiner Seite machte sich Heboric auf den Weg zur gegenüberliegenden Seite links von Sha’ik und nahm seinen Platz ein paar kurze Schritte von der Estrade entfernt ein. Das junge Mädchen setzte sich neben ihn.
Irgendeine Art von dauerhafter Zauberei erleuchtete den
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