SdG 08 - Kinder des Schattens
Forcht. »Es ist geschehen. Von jetzt an werden wir die Wachen verdoppeln.«
Rhulad ging zu Midik. »Aber du glaubst mir doch, oder?«
Midik Buhn wandte sich ab. »Es war schon ein Kampf für sich, dich für deine Wache aufzuwecken, Rhulad«, sagte er. Seine Stimme klang traurig und müde.
Rhulad stand da wie erstarrt; der Schmerz über den vermeintlichen Verrat stand ihm klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Lippen wurden dünn, als er die Zähne zusammenbiss und sich langsam abwandte.
Die Scheißkerle waren in unserem Lager. Hannan Mosags Vertrauen in uns …
»Brechen wir die Zelte ab und machen, dass wir loskommen«, sagte Forcht.
Trull stellte fest, dass er immer wieder den Horizont absuchte; das Gefühl der Verwundbarkeit war zeitweise beinah überwältigend. Sie wurden beobachtet, wurden verfolgt. Die Leere der Landschaft war in gewisser Hinsicht eine Lüge. Vielleicht war Zauberei am Werk, aber auch das konnte – durfte – Rhulads Fehler nicht entschuldigen.
Das Vertrauen war dahin, und Trull wusste nur zu gut, dass Rhulads Zukunft von nun an durch den verzweifelten Versuch beherrscht werden würde, es zurückzuerlangen. Ein Fehltritt, und der zukünftige Pfad des Jungen war tief zerfurcht und unvermeidlich. Ein einsamer Weg, von allen Seiten bedrängt, jeder Schritt von unzähligen Zweifeln – ob echten oder eingebildeten, der Unterschied war belanglos geworden – gehemmt.
In allem, was seine Brüder und Freunde taten, würde Rhulad eine ununterbrochene Folge von Anschuldigungen sehen. In jeder Geste, jedem Wort, jedem Blick. Und das wirklich Tragische daran war, dass er damit nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt sein würde.
Sie konnten es vor dem Dorf nicht geheim halten. Unabhängig davon, ob es eine Schmach für die Sengars war oder nicht, die Geschichte würde herauskommen, würde mit leisem Hohn von Rivalen und Missgünstigen weiter erzählt werden – und davon gab es mehr als genug, wenn sich eine solche Möglichkeit bot. Was geschehen war, war ein Makel, der sie alle beflecken würde, die ganze Familie Sengar.
Sie setzten ihren Weg fort, nordwärts, durch den leeren Tag.
Spät am Nachmittag entdeckte Theradas ein Stück voraus etwas, und wenige Augenblicke später sahen es auch die anderen. Ein Schimmer reflektierten Sonnenlichts, groß, schmal und rechteckig, der sich aus der flachen Ödnis erhob. Es war schwierig, seine Größe abzuschätzen, aber Trull hatte das Gefühl, dass das Ding wirklich war – und unnatürlich.
»Das ist die Stelle«, sagte Forcht. »Hannan Mosags Träume haben die Wahrheit gesagt. Dort werden wir das Geschenk finden.«
»Dann sollten wir machen, dass wir hinkommen«, sagte Theradas und stapfte los.
Der Sparren vor ihnen wurde stetig größer. Risse durchzogen den Schnee und das Eis unter ihren Füßen, als sie näher kamen, stieg das Gelände allmählich an. Der Splitter war aus der Tiefe aufgestiegen, im Rahmen eines kataklysmischen, plötzlichen Ausbruchs, der wagengroße Eisstücke in die Luft geschleudert hatte, die dann geborsten und zur Seite weggerollt waren. Rechteckige Felsen aus Schlamm, jetzt wieder gefroren und reifbestäubt, waren über den Schnee gerollt und umgaben das Gebiet in einem großen Kreis.
Wie Prismen wirkende Flächen fingen das Sonnenlicht im Innern des Sparrens ein und zerlegten es. Das Eis in dem aufragenden Splitter war rein und klar.
Am Fuß der von Rissen durchzogenen Aufwölbung – immer noch dreißig oder mehr Schritte von dem Sparren entfernt – machte die Gruppe Halt. Trull streifte sich das Zuggeschirr des Schlittens ab, und Binadas tat es ihm gleich.
»Theradas, Midik, ihr bleibt hier und bewacht die Schlitten«, sagte Forcht. »Trull, zieh deinen Speer aus der Schlinge. Binadas, Rhulad, an die Flanken. Los geht’s.«
Sie stiegen den Hang hinauf, schlängelten sich dabei zwischen Massen aus Eis und Schlamm hindurch.
Ein fauliger Geruch hing in der Luft, ein Gestank nach alter Verwesung und Salzlake.
Binadas zischte warnend und sagte dann: »Der Geist, den Hannan Mosag aus den Tiefen des Ozeans heraufgerufen hat, war hier, unter dem Eis. Dies ist sein Werk, und die Zauberei klingt noch nach.«
»Emurlahn?«, fragte Trull.
»Nein.«
Sie kamen zum Fuß des Sparrens. Sein Umfang war größer als der von tausend Jahre alten Schwarzholzbäumen. Zahllose verdrehte Flächen stiegen auf verwirrende Weise auf, eine Masse glatter, abgescherter Oberflächen, in denen das rote Licht der
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