SdG 08 - Kinder des Schattens
Anmut, mit der Ihr dasteht. Die von Wind und Wetter gezeichnete Majestät Eures Profils, das von diesen Höhen so geschickt geprägt wurde.
Du da – Nerek! Suche deinen Aufseher – wir werden hier lagern. Das Essen muss zubereitet werden. Ladet die Holzbündel ab, die sich im dritten Wagen befinden. Ich will ein Feuer, da, an der üblichen Stelle. Na los, beeilt euch!«
Seren Pedac setzte ihren Packen ab und ging den Pfad entlang. Schon nach wenigen Augenblicken hatte der Wind Buruks Worte verschluckt. Dreißig Schritt weiter kam sie zu einer Stelle, an der der Pfad sich verbreiterte und zum ersten alten Schrein. Ebene Streifen zerschrammten Felsgesteins erstreckten sich zu beiden Seiten, und die Wände der flankierenden Berge waren glatt abgeschnitten worden. Auf jeder dieser ebenen Flächen waren Felsbrocken so angeordnet worden, dass sie die Umrisse eines Schiffs nachbildeten, mit spitz zulaufendem Bug und Heck, die jeweils durch aufrecht stehende Menhire gekennzeichnet waren. Die Steine am Bug waren behauen worden, so dass die dargestellte Gestalt Vater Schatten, dem Gott der Edur ähnelte, doch der Wind hatte die Details längst abgeschliffen. Was auch immer ursprünglich in diesen beiden flankierenden Schiffen gewesen war, war längst verschwunden, auch wenn der felsige Grund in ihrem Innern mit merkwürdigen Flecken übersät war.
Nur die steilen Felswände hatten sich noch etwas von ihrer alten Macht bewahrt. Glatt und schwarz waren sie, und halb durchsichtig, wie dünner, rauchiger Obsidian. Und hinter ihnen bewegten sich schemenhafte Umrisse. Als wären die Berge ausgehöhlt worden und jeder Abschnitt ein Fenster, das den Blick in eine geheimnisvolle ewige Welt in ihrem Innern gewährte. Eine Welt, die nichts von dem beachtete, was jenseits ihrer Grenzen aus undurchdringlichem Stein und dieser merkwürdigen Abschnitte lag – weil sie es entweder nicht sah oder aber es ihr vollkommen gleichgültig war.
Der halb durchsichtige Obsidian widersetzte sich den Versuchen Serens, die Umrisse genauer zu betrachten, die sich auf der anderen Seite bewegten, genauso wie es auch die letzen knapp zwei Dutzend Male gewesen war, als sie diesen Ort besucht hatte. Doch dieses Geheimnis an sich stellte schon eine unwiderstehliche Verlockung dar, zog sie wieder und wieder hierher.
Vorsichtig trat sie um das Heck des Schiffes aus Felsbrocken herum und näherte sich dem Abschnitt auf der Ostseite. Sie zog den pelzbesetzten Handschuh von ihrer Rechten, streckte den Arm aus und legte die Hand auf den glatten Stein. Er war warm, sog die Steifheit aus ihren Fingern und nahm die Schmerzen aus ihren Gelenken. Dies war ihr Geheimnis – heilende Kräfte, die sie entdeckt hatte, als sie den Felsen zum ersten Mal berührt hatte.
Das Leben in diesem harten Land raubte dem Körper die Geschmeidigkeit. Knochen wurden spröde und verformten sich vor Schmerzen. Der ewige harte Felsboden unter den Füßen schickte schon bald bei jedem Schritt Erschütterungen durch das Rückgrat. Die Nerek – der Stamm, der im östlichsten Zipfel der Bergkette gelebt hatte, ehe er sich dem König der Letherii unterworfen hatte – hielten sich für die Kinder einer Verbindung zwischen einer Frau und einer Schlange, und sie glaubten, die Schlange hause noch immer im Innern ihrer Körper – in Gestalt des sanft geschwungenen Rückgrats, der aufeinander gestapelten Knöchelchen, die sich nach oben erstreckten, um ihren Kopf in der Mitte des Gehirns zu verstecken. Doch die Berge verachteten jene Schlange, wollten sie wieder zurück auf den Boden ziehen, sie auf ihren Bauch zurückzwingen, damit sie erneut in Spalten dahinglitt und sich unter Felsen zusammenrollte. Und so wurde die Schlange im Laufe ihres Lebens gezwungen, sich zu biegen, zu beugen und zu verdrehen.
Die Nerek begruben ihre Toten unter flachen Steinen.
Zumindest hatten sie es getan, bis das Edikt des Königs sie dazu gezwungen hatte, den Glauben an die Festen anzunehmen.
Jetzt lassen sie die Leichname ihrer Verwandten einfach da liegen, wo sie gestorben sind. Das geht sogar so weit, dass sie ihre Hütten aufgeben. Es war Jahre her, doch Seren Pedac erinnerte sich noch immer schmerzhaft deutlich daran, wie sie über einen Grat gekommen war und das erste Mal das riesige Plateau gesehen hatte, auf dem die Nerek lebten. Die Dörfer hatten jede Unterscheidbarkeit verloren, hatten sich zu einem chaotischen, mutlosen Durcheinander vermischt. Jede dritte oder vierte Hütte war zerfallen –
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