SdG 11 - Die Kochenjäger
Brunnen.
Kurze Zeit später tauchte Kalam aus der Tunnelmündung wieder auf. T’amber, die mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt auf dem Boden saß, blickte auf, nickte und stand auf. Blut hatte sich in ihrem Schoß gesammelt und rann ihre Schenkel hinunter.
»Wohin jetzt?«, fragte die Mandata an Kalam gerichtet.
»Wir folgen der alten Obstgartenmauer nach Westen, bis wir auf die Rabenhügelstraße stoßen, dann wenden wir uns nach Süden, direkt auf den Hügel selbst zu – es ist ein breiter Weg mit vielen abgesperrten oder verbarrikadierten Seitengässchen. Wir umgehen den Hügel auf der Ostseite, entlang der Alten Stadtmauer, und überqueren dann die Admiralsbrücke.« Kalam zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »Wir müssen uns schnell bewegen, im Laufschritt, nicht stur geradeaus, aber ohne stehen zu bleiben. Außerdem treibt sich dort vorn ein Mob herum, Schläger aller Art, die auf Ärger aus sind - wir müssen verhindern, dass die uns irgendwie aufhalten. Das heißt, wenn ich sage, wir bewegen uns schnell und bleiben immer in Bewegung, dann meine ich das auch. T’amber – «
»Ich kann mithalten.«
»Hört zu – «
»Ich habe gesagt, ich kann mithalten.«
»Ihr müsstet eigentlich längst die Besinnung verloren haben, verdammt!«
Sie hob ihr Schwert. »Lasst uns den nächsten Hinterhalt aufspüren, ja?«
Tränen glänzten unter Stürmischs Augen, als Fiedlers traurige Musik den kleinen Raum erfüllte, und in den Köpfen der vier Soldaten lösten sich langsam, nacheinander Namen und Gesichter auf, während die Kerzen sprotzelnd abbrannten. Pausenlos und an- und abschwellend drangen die Geräusche von Kämpfenden, von Sterbenden gedämpft zu ihnen herein – als wären sie ein Chor der gesammelten Stimmen der Geschichte, der menschlichen Fehlschläge und als würden ihre Echos sie von jedem Ort der Welt aus erreichen. Fiedlers Versuch, die grimmige Monotonie eines Klagelieds zu vermeiden, verlieh der Musik etwas Zögerliches, ein Suchen nach Hoffnung und Glaube und die feste Absicht, ein Band der Freundschaft zu knüpfen – nicht nur zu denjenigen, die gefallen waren, sondern auch zu den drei anderen Männern im Raum –, aber es war ein Kampf, von dem er wusste, dass er ihn verlieren würde.
Für so viele Menschen schien es so leicht zu sein, Krieg und Frieden auseinanderzuhalten, ihre Definitionen auf das Unzweideutige zu beschränken. Marschierende Soldaten, offene Feldschlachten und Gemetzel. Verschlossene Waffenkammern, Verhandlungen, Festlichkeiten und weit geöffnete Stadttore. Aber Fiedler wusste, dass das Leiden in beiden Sphären des Daseins gedieh – er hatte zu viele Arme gesehen, alte Weiber und Kinder in den Armen ihrer Mütter, Gestalten, die reglos am Wegesrand oder in den Rinnsteinen der Straßen lagen – in denen unaufhörlich das Abwasser dahinströmte, wie Flüsse, die ihre verbrauchten Seelen einsammelten. Und er war zu einer Überzeugung gelangt, die wie ein eiserner Nagel in seinem Herzen steckte, und angesichts dieser brennenden, versengenden Erkenntnis konnte er die Dinge nicht mehr so betrachten, wie er es gewohnt war, konnte er nicht mehr umhergehen und das, was er sah, mit einem säuberlich abgeteilten Verstand sehen, der zum Bersten mit einem Haufen von Urteilen gefüllt war – jenem kritischen Akt moralischer Relativität: Das ist weniger, das ist mehr. Die Wahrheit, die in seinem Herzen brannte, war schlicht: Er glaubte nicht mehr an Frieden.
Frieden existierte nicht – außer als Ideal, dem mittels unzähliger hochtrabender Worte Tribut gezollt wurde, eine Litanei, die vortäuschte, dass die Abwesenheit offener Gewalt an sich bereits ausreichte und ein Beweis dafür war, dass das eine besser als das andere war. Es gab keine Trennung zwischen Krieg und Frieden – keinen echten Gegensatz außer dem, wie sie jeweils eine allumfassende Ungleichheit zum Ausdruck brachten. Das Leiden durchdrang alles. Kinder starben zu Füßen wohlhabender Lords, ganz egal, wie gefestigt und unbedroht ihre Herrschaft auch sein mochte.
In ihm war zu viel Mitleid – er wusste das, denn er konnte die Schmerzen spüren, die Hilflosigkeit, die Aufforderung zur Verzweiflung, und aus dieser Verzweiflung erwuchs der Wunsch – das Bedürfnis –, sich von all dem freizumachen, die Schultern zu zucken und einfach wegzugehen, all dem, was er sah, all dem, was er wusste, einfach den Rücken zu kehren. Wenn er nichts tun konnte, dann wollte er verdammt noch mal auch nichts sehen.
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