SdG 12 - Der Goldene Herrscher
auf üble Weise benutzt. Unter den Göttern herrscht Krieg, und wir, wir sind nichts - Ihr, ich, Rhulad Sengar. Also reitet, ja, reitet so weit weg, wie Ihr könnt. Und nehmt diesen tapferen Krieger mit. Wenn Ihr das tut, werde ich frei von Kummer sterben …«
»Und auch … frei von Bedauern?«
Er spuckte auf den Boden. Das war seine einzige Antwort, aber sie verstand sie nur zu gut.
Eine wuchtige, dicke Mauer aus behauenem Kalkstein am Ende eines seit langem verlassenen Korridors in einem vergessenen Durchgang des Alten Palasts - und dahinter der ehemalige Tempel des Abtrünnigen, der längst aus der Erinnerung der Bürger von Letheras verschwunden war. In dem zentralen Raum mit der bienenstockförmigen Kuppel musste es seit mehr als vier Jahrhunderten immer dunkel gewesen sein, und es hatte nicht den geringsten Luftzug gegeben. In den wie Speichen zu unbedeutenderen Räumen wegführenden Gängen waren die letzten Schritte bereits hundert Jahre zuvor verhallt.
Was nicht verwunderlich war - schließlich war der Abtrünnige in die Welt hinausgeschritten. Der Altar war kalt und tot und vermutlich zerstört. Die letzten Priester und Priesterinnen - die ihre Titel nur insgeheim geführt hatten, da sie sonst Pogromen ausgesetzt gewesen wären - hatten ihre gnostischen Traditionen mit ins Grab genommen, und es waren keine Anhänger mehr da gewesen, die in ihre Fußstapfen hätten treten können.
Der Herr der Festen ist in die Welt hinausgeschritten. Er weilt jetzt unter uns. Es kann jetzt keine Anbetung mehr geben - keine Priester, keine Tempel. Das einzige Blut, das der Abtrünnige von nun an schmecken wird, ist sein eigenes. Er hat uns im Stich gelassen.
Er hat uns alle im Stich gelassen.
Und dennoch hörte das Flüstern niemals ganz auf. Es hallte wie geisterharter Wind durch den Verstand des Gottes. Jedes Mal, wenn sein Name ausgesprochen wurde - als Gebet, als Fluch -, konnte er die Macht wie ein fernes Zittern spüren. Eine Verspottung all dessen, was er einst in Händen gehalten hatte, eine Verspottung der wütenden Feuer der Blutopfer, von inbrünstigem, angstvollem Glauben. Es gab Zeiten, wie er zugeben musste, in denen er das bedauerte. In denen er bedauerte, all das freiwillig aufgegeben zu haben.
Der Herr der Fliesen, der Schreiter inmitten der Festen. Aber die Festen sind geschwunden, ihre Macht ist vergessen, begraben unter dem Verstreichen von Zeitalter um Zeitalter. Und auch ich bin geschwunden, gefangen in diesem Landstrich, diesem armseligen Imperium in einem Zipfel eines Kontinents. Ich bin in die Welt hinausgeschritten … aber die Welt ist alt geworden.
Er stand nun vor der steinernen Mauer am Ende des Korridors. Zögerte ein weiteres halbes Dutzend Herzschläge lang unentschlossen - und trat dann hindurch.
Jenseits der Mauer herrschte Dunkelheit, und die Luft schmeckte abgestanden und trocken. Einst, vor langer Zeit, hatte er Fliesen gebraucht, um so etwas - durch eine feste Steinmauer hindurchgehen - tun zu können. Einst hatte seine Macht frisch gewirkt, vor Möglichkeiten übersprudelnd; einst hatte es so ausgesehen, als könne er die Welt formen und erneuern. Was für eine Arroganz. Sie hatte jedem Angriff der Wirklichkeit getrotzt - eine gewisse Zeit lang.
Er beharrte immer noch auf seinem Dünkel, wie er nur zu gut wusste - ein Fluch, unter dem alle Götter litten. Und er ergötzte sich daran, hier zu zupfen, dort zu stupsen - und dann zurückzutreten und zuzusehen, wie die Fäden des Schicksals sich neu verwoben, während jeder Strang unter seiner Einmischung summte. Aber es wurde schwieriger. Die Welt widersetzte sich ihm. Weil ich der Letzte bin. Ich bin der letzte Faden, der bis zu den Festen zurückreicht. Und wenn dieser Faden durchtrennt wurde, wenn er riss und ihn davonschleuderte, so dass er ins Licht des Tages stolpern würde … was dann?
Der Abtrünnige machte eine Geste, und einmal mehr erwachten Flammen in den im unteren Teil der Kuppelwand ringsum eingelassen halbschalenförmigen Nischen, ließen Schatten über den Mosaikfußboden zucken. Der Altar auf seinem erhöhten Podest war mit einem Vorschlaghammer bearbeitet worden. Die zerschmetterten Steine schienen noch immer gegenseitige Schuldzuweisungen zu verströmen. Wer hat wem gedient, verdammt? Ich bin hinausgegangen, unter euch, um etwas zu verändern - damit ich Weisheit übermitteln konnte, egal, welche Weisheit ich auch besessen haben mag. Ich dachte - ich dachte, ihr würdet dankbar sein.
Doch ihr habt es
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