SdG 12 - Der Goldene Herrscher
Gesicht bekommen: eine ganze Zivilisation, die am Rande des Hungertods dahintaumelte, während die Wüste sich wie eine Seuche ausbreitete.
Der Mond stand bereits hoch am sternengesprenkelten Nachthimmel, als sie sich der Rodara-Herde näherten. Es hatte wenig Sinn, es mit Myrids zu versuchen - die Tiere waren nicht in der Lage, über größere Entfernungen schnell zu laufen -, aber als sie sich noch näher heranschoben, konnte Rotmaske sehen, wie groß diese Rodara-Herde tatsächlich war. Sie mochte zwanzigtausend Köpfe zählen, vielleicht sogar mehr.
Auf einer Hügelkuppe im Norden befand sich ein großes Viehtreiberlager, von Kochfeuern erhellt. Zwei feste Gebäude - aus Baumstämmen erbaute Blockhütten mit grasbepflanzten Dächern - gewährten Aussicht auf das schmale Tal und die Herden. Sie gehörten, wie Rotmaske wusste, dem Vorarbeiter des Repräsentanten und bildeten die Keimzelle für die richtige Siedlung, die hier im Entstehen begriffen war.
Rotmaske, der am Rande einer Wasserrinne im Gras des Talhangs kauerte - links neben ihm die drei jungen Krieger - beobachtete die Letherii weitere zwanzig Herzschläge lang; dann winkte er Masarch und den anderen beiden zu, ihm hinunter in die Wasserrinne zu folgen.
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte der Krieger namens Theven. »In dem Lager da drüben müssen mindestens hundert Letherii sein - und was ist mit den Schäfern und ihren Hunden? Wenn der Wind sich dreht…«
»Still«, sagte Rotmaske. »Überlasst die Hunde und die Schäfer mir. Und was das Lager angeht - nun, sie werden bald genug zu tun haben. Geht zurück zu den Pferden, steigt auf und haltet euch bereit, seitlich an der Herde entlangzureiten und sie zu treiben, wenn sie kommt.«
Im fahlen Mondlicht wirkte Masarchs Gesicht angespannt, und in seinen Augen stand ein wilder Ausdruck - er hatte sich in seiner Todesnacht nicht gut geschlagen, aber bis jetzt wirkte er mehr oder weniger geistig gesund. Rotmaske vermutete, dass sowohl Theven wie auch Kraysos Bleddenkraut in ihre Särge geschmuggelt und die Blätter gekaut hatten, um die Gefühle abzustumpfen und nicht unter Panikattacken und Krämpfen leiden zu müssen. Vielleicht war das auch in Ordnung so. Aber Masarch hatte kein Bleddenkraut gehabt. Und wie bei allen Völkern, die in der offenen Steppe lebten, war Enge schlimmer als der Tod, schlimmer als alles, was man sich vorstellen konnte.
Doch dieser schmerzhafte Übergang ins Erwachsenenleben hatte einen Wert, es war eine Wiedergeburt, die damit begann, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, mit den eigenen dämonischen Heimsuchungen, die eine nach der anderen unerbittlich herankamen und sich nicht abweisen ließen. Die Narben, die dieser Übergang zurückließ, konnten einem Krieger dabei helfen, die Wahrheit über Vorstellungen zu erkennen - dass sie eine Waffe waren, derer sich der Verstand zwar auf Schritt und Tritt bediente, die jedoch für denjenigen, der sie einsetzte, ebenso tödlich war wie für ihre heraufbeschworenen Gegner. Weisheit stellte sich ein, wenn die Gewandtheit im Umgang mit dieser Waffe wuchs - wir schlagen alle Schlachten mit unseren Vorstellungen: die in unserem Innern, und die draußen in der Welt. Dies ist der wahre Kern des Befehlens, und ein Krieger muss lernen, zu befehlen - sich selbst und anderen. Es war möglich, dass Soldaten - etwa die der Letherii - etwas Ähnliches erlebten, wenn sie einen bestimmten Rang erreichten, aber dessen sicher war sich Rotmaske nicht.
Als er sich umblickte, sah er, dass seine Gefolgsleute in der Dunkelheit verschwunden waren. Er schätzte, dass sie inzwischen bei ihren Pferden waren. Wo sie mit zugeschnürter Kehle rasch und flach atmend warten würden. Beim kleinsten Geräusch zusammenzuckten, mit schweißnassen Händen die Zügel und Waffen fester packten.
Rotmaske gab ein leises Brummen von sich, und der Zughund, der auf dem Bauch lag, schob sich näher. Er legte dem Tier kurz eine Hand auf den dicht bepelzten Nacken, zog sie dann wieder weg. Einen Augenblick später machten die beiden sich Seite an Seite tief geduckt in Richtung der Rodara-Herde auf.
Abasard schritt langsam am Rand der schlafenden Herde entlang, um munter zu bleiben. Seine beiden Lieblingshunde trotteten hinter ihm her. Als Schuldner in Drene geboren und aufgewachsen, hatte sich der Sechzehnjährige eine solche Welt niemals vorstellen können: den riesengroßen Himmel - sich ausbreitende Dunkelheit und zahllose Sterne in der Nacht, gewaltig und
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