SdG 12 - Der Goldene Herrscher
und das werden sie auch weiterhin tun, selbst wenn sie dabei ertappt werden. Sie werden lügen, und mit der Zeit werden diese Lügner sich selbst überzeugen, werden sie in aller Selbstgerechtigkeit die Lügner ihrer Strafbarkeit berauben. Bis eine Zeit kommt, in der eine letzte Lüge ausgesprochen wird, eine Lüge, die nur noch mit Wut beantwortet werden kann, mit kaltblütigem Mord, und an jenem Tag wird Blut an jeder Mauer dieser viel gepriesenen, entwöhnten Gesellschaft herabrinnen.
Rede des beschuldigten Gildenmeisters
Semel Fural von der Gilde der Sandalenschließenmacher
Die Weibchen der Schildkrötenart, die unter dem Namen Vinik bekannt war, lebten die meiste Zeit in den hintersten Zipfeln der ausgedehnten Quellgebiete des Lether, in den vollgelaufenen Senken und den Hochlandsümpfen, die in den dichten Nadelwäldern am Fuß des Blaurosegebirges häufig zu finden waren. Hier strömten Gebirgsbäche, zurückgehalten und aufgestaut von Dämmen, die die plattschwänzigen Flussratten bauten, über sanfte Stufen zu den breiteren, bereits vereinigten Nebenflüssen hinunter, die den riesigen Fluss nährten. Der Panzer der Vinik-Schildkröten war länglich und besaß einen gezackten Längskiel, und ihre kräftigen vorderen Gliedmaßen endeten in mit Krallen versehenen Händen, die einen gegenständigen Daumen aufwiesen. Zur Zeit der Eiablage durchstreiften die Weibchen - die deutlich kleiner waren als die Männchen, die in den tiefen Flüssen und Meeren lebten - auf der Suche nach den Nestetn von Wasservögeln die Teiche. Wenn sie eines fanden, das groß genug und ausreichend zugänglich war, eignete das Vinik-Weibchen sich das Nest an. Bevor sie ihre eigenen Eier legte, sonderte die Schildkröte einen Schleim ab, den sie über die Vogeleier verteilte; dieser Schleim hatte die Aufgabe, die Weiterentwicklung der unausgebrüteten Vögel zu verhindern. Sobald ihre eigenen Eier dann an Ort und Stelle waren, machte die Schildkröte das ganze Nest los, so dass es mit der Strömung dahintrieb. An jedem Hindernis versammelten sich junge Vinik-Männchen, um den Nestern über trockene Stellen hinwegzuhelfen, so dass sie ihre passive Wanderung den Lether hinab fortsetzen konnten.
Viele gingen unter oder stießen auf ihrer langen, mühsamen Reise zum Meer auf ein tödliches Hindernis. Andere wurden von erwachsenen Viniks geplündert, die in den Tiefen des Hauptflusses hausten. In den Nestern, die es bis ins Meer schafften, schlüpften die jungen Schildkröten aus den Eiern, fraßen die Vogel-Embryos und ließen sich dann ins salzige Wasser gleiten. Erst wenn sie ein jugendliches Alter erreicht hatten - nach etwa sechzig oder siebzig Jahren -, würde sich die nächste Generation Viniks auf ihre jahrelange Reise flussaufwärts zu den fernen, schlammigen Teichen in den Wäldern am nordwestlichen Rand des Blaurosegebirges machen.
Nester tanzten auf den Wassern des Lether, der durch Letheras floss, die Hauptstadt des Imperiums und Sitz des Imperators. Die einheimischen Fischer machten einen Bogen um sie, denn manchmal verfolgten große Vinik-Männchen die Nester knapp unter der Wasseroberfläche - und sofern sie nicht hungrig genug waren, um das Nest zu plündern, pflegten sie es zu verteidigen. Nur die wenigsten Fischer wollten es absichtlich mit einer Kreatur aufnehmen, die so viel wiegen konnte wie ein Flussboot - und die in der Lage war, ein solches Flussboot mit ihrem Schnabel und den starken Klauen zu zerfetzen.
Die Ankunft der Nester kündete vom Beginn des Sommers, genau wie die Mückenschwärme über dem Fluss, das Sinken des Wasserstands und der Geruch von trocknendem Schlamm an den Ufern.
Auf dem niedrigen Hügel hinter dem Alten Palast, jenem verwahrlosten Gelände, auf dem die Grundmauern alter Türme standen - vor allem einer, erbaut aus schwarzem Stein, mit einem von einer niedrigen Mauer umgebenen Hof-, schleppte sich eine gebeugte, in einen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt mit unbeholfenen, schmerzenden Schritten langsam auf das Tor zu. Das Rückgrat des Mannes war verkrümmt, gebeugt vom verheerenden Wüten frei hindurchwogender Macht, bis schließlich die Umrisse jedes einzelnen Wirbels unter dem fadenscheinigen Umhang sichtbar wurden, seine Schultern weit nach vorn gebeugt, so weit, dass er den verwilderten Erdboden problemlos mit den Armen erreichen konnte, die er dazu benutzte, seinen gebrochenen Körper weiterzuziehen.
Er war auf der Suche nach einem Nest. Einem Hügel aus aufgewühlter Erde und
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