Sean King 03 - Im Takt des Todes
diesmal auf den Unterleib des Mannes. In diesem Augenblick zerbrach etwas in ihr mit solcher Wucht, dass sie beinahe ihren Mageninhalt auf den von Stöckelschuhen zerkratzten Boden entleert hätte. Der Sekundenbruchteil des Zögerns genügte dem Mann, mit seiner großen Pranke Michelles Fußgelenk zu packen. Dass er seine wendige, schnelle Gegnerin endlich erwischt hatte, schien ihm neue Kräfte zu verleihen. Brüllend schleuderte er Michelle über den Tresen in ein Regal mit Wein- und Whiskyflaschen. Die Menge tobte und skandierte: »Mach die Schlampe kalt! Mach die Schlampe kalt!«
Der Barmann schrie vor Wut, als sein Inventar auf den Boden spritzte, verstummte aber sofort, als der Fleischberg über den Tresen kletterte und ihm einen brutalen Kinnhaken verpasste. Dann packte der Kerl die benommene Michelle und rammte ihr Gesicht in den Spiegel, der über den zerbrochenen Flaschen hing, bis das Glas zerbarst. Noch immer voller Wut, stieß er ihr sein Knie in den Magen und warf sie dann in die Zuschauermenge auf der anderen Seite der Theke. Michelle schlug hart auf dem Boden auf und blieb mit blutigem Gesicht liegen. Ihr Körper zuckte krampfhaft.
Die Zuschauer sprangen zurück, als die schweren Stiefel des Riesen krachend neben Michelles Kopf landeten. Er packte sie an den Haaren, riss sie in die Höhe, und dann hing sie dort schlaff wie ein Jo-Jo, dessen Schwung aufgebraucht war. Der Hüne musterte Michelles kraftlose Gestalt; offenbar dachte er darüber nach, wie er ihr als Nächstes wehtun konnte.
»Ins Gesicht! Schlag ihr in die Fresse, Rodney! Hau ihr die Zähne ein!«, kreischte seine Freundin, die sich inzwischen aufgerappelt hatte und die Bier- und Schnapsflecken auf ihrem Kleid abwischte.
Rodney nickte und riss seine große schwarze Faust zurück.
»Na los! Schlag ihr die Fresse ein, Rodney!«, schrie seine Freundin wieder.
»Mach die Schlampe kalt!«, brüllte die Menge, wenn auch nicht mehr ganz so enthusiastisch. Die Leute fühlten, dass der Kampf so gut wie vorbei war und dass sie sich bald wieder ihren Drinks und Zigaretten zuwenden konnten.
Michelles Arm bewegte sich so schnell, dass Rodney noch nicht einmal zu bemerken schien, dass er in der Nierengegend getroffen war, bis sein Hirn ihm sagte, dass furchtbare Schmerzen durch seinen Körper schossen. Rodneys Wutschrei übertönte sogar die Musik, die noch immer aus den Lautsprechern dröhnte. Dann traf seine Faust Michelles Kopf und schlug ihr einen Zahn aus. Noch einmal hieb er zu. Blut spritzte Michelle aus Nase und Mund. Rodney holte gerade zum entscheidenden Schlag aus, als die Cops die Tür eintraten und mit vorgehaltenen Waffen in die Kneipe stürmten.
Michelle bekam nicht mehr mit, wie die Polizisten für Ordnung sorgten und ihr das Leben retteten. Eine Sekunde nach Rodneys letztem Schlag hatte sie das Bewusstsein verloren, in der festen Überzeugung, nie wieder zu erwachen.
Ihr letzter Gedanke war: Leb wohl, Sean.
2.
I m verblassenden Licht blickte Sean King auf den ruhigen Fluss hinaus. Mit Michelle stimmte etwas nicht, und er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Seine Partnerin wurde von Tag zu Tag depressiver; die Melancholie war ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden.
Angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung hatte Sean vorgeschlagen, wieder nach Washington D. C. zu ziehen und noch einmal von vorne anzufangen; doch der Tapetenwechsel hatte nichts geholfen. Und da Geld und Arbeit im hart umkämpften District of Columbia dünn gesät waren, hatte Sean die Großzügigkeit eines Kumpels in Anspruch nehmen müssen. Dieser Freund hatte als privater Sicherheitsberater ein Vermögen gemacht und seine Firma dann für gutes Geld an ein multinationales Unternehmen verkauft.
Zurzeit wohnten Sean und Michelle im Gästehaus der Villa dieses Freundes, südlich von Washington am Fluss gelegen. Zumindest wohnte Sean dort, denn Michelle hatte sich seit mehreren Tagen nicht blicken lassen. Sie ging nicht einmal mehr an ihr Handy. Als sie zum letzten Mal nach Hause gekommen war – wieder mitten in der Nacht –, war sie sturzbetrunken gewesen, sodass Sean ihr heftige Vorhaltungen gemacht hatte, sich in diesem Zustand hinter das Steuer gesetzt zu haben. Am nächsten Morgen war Michelle sang- und klanglos verschwunden.
Sean strich mit dem Finger über Michelles Wettkampf-Ruderboot, das an einer Klampe am Steg vertäut war. Michelle war die geborene Sportlerin. Sie hatte bei den olympischen Ruderwettkämpfen eine Medaille im
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