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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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»Die und Malerin – die pinselt wie ne Blöde, ist eben eine Kröte.« Von da an hieß das NKWD-Weib nur noch die Kröte. Die drohte, Mascha für ihre Lästerworte den Mund zuzunähen und sie auf die Straße zu werfen, mitsamt ihrer Ziege. Von allen Erwachsenen des Heims akzeptierte Mascha einzig den arbeitsamen Themis. Gegen Kriegsende nähte er ihr aus irgendwo ergatterten Lederstücken ein Paar hohe Schuhe. Den linken Schuh formte er exakt nach ihrem Huf. Als alles fertig war und passte, veranstaltete Mascha im Schuppen ein Freudenfest mit selbstgebranntem Wodka. Zu guter Letzt tanzte sie in ihren neuen Schnürstiefeln und sang schlüpfrige Scherzliedchen, von denen ich eins fürs ganze Leben behalten habe:

    Aus dem Wald in fernen Landen
    Schleppten dreizehn Elefanten
    einen Riesenpimmel raus,
    wie ein Baumstamm sah der aus.
    Ein monumentaleres Bild kann man nicht erschaffen. Ein Homer der Stalinzeit.
Mascha, Njuschka und die Buntstifte
    Mascha Kuhfuß hatte eine Hilfskraft, die junge Njuschka, oder wie wir sagten: »Njuschka Schätzchen, scharfes Kätzchen.« Das noch unfertige Pummelchen hatte ein teigiges rosa Gesicht mit huschenden Äuglein. Tante Mascha wandte sich ausgerechnet an mich Knirps, als sie mit vielsagendem Blick auf Njuschkas wiegende Hüften lästerte: »Kuck mal, wie sie ’n Hintern dreht, sie sucht das Ding, das für sie steht, und unsre Bolschewikenweiber sagen ja: Wer sucht, der findet.« Alles hab ich damals noch nicht kapiert, aber manches wusste ich schon.
    Zu den Pflichten der weiblichen Bediensteten gehörten die verschiedensten Arbeiten: das Aufräumen und Wischen der Zellen (Verzeihung, der Schlafräume), der Korridore, Treppen, Abtritte, Latrinen und Karzer, das Geschirrspülen … Tante Mascha bestand wegen ihrer dürren Beine und, wie sie sich ausdrückte, »wegen ihres schweren Lebens in den Hosenställen der Bolschewiken« darauf, nur den Abwasch zu machen, und Njuschka Schätzchen hatte mit unserer Hilfe alles Übrige zu erledigen, wobei sie nicht ohne Stolz ihre nackten Schenkelzeigte. Die Wächter glotzten geil und hätten sie wohl längst flachgelegt, wäre Kuhfuß nicht gewesen. Das Wischen der Treppe hieß bei uns »Njuschkas Kino«. Aus allen Ecken kamen die größeren Jungs zum unteren Treppenabsatz gewetzt, um einen Blick zu riskieren, bis die Diensthabenden oder die herbeigetrabte Mascha sie wegjagten.
    Manchmal mussten wir in Reih und Glied antreten und wurden zu erzieherischen Zwecken in einen Betrieb geführt. Diese Ausflüge in die Welt waren für uns alle die einzige Abwechslung, aber wir fieberten ihnen noch aus einem anderen Grund ungeduldig entgegen, denn »die Straße ernährt den hungrigen Dieb«, und unterwegs ließ sich manchmal was abstauben.
    Das erste Mal klaute ich ganz unbewusst, wie von selbst. Sie führten uns in ein Büro; was dort war und was wir dort machten, weiß ich nicht mehr. Nur ein Bild sehe ich noch vor mir: Nahe am Fenster stand mit dem Rücken zu mir ein großer Mann und schrieb oder zeichnete, tief über den Tisch gebeugt, fast auf ihm liegend, irgendwas auf ein großes weißes Blatt Papier. Rechts von ihm lag eine Schachtel mit schön gespitzten Buntstiften. So etwas sah ich zum ersten Mal in meiner kurzen Kindheit. Ich weiß bis heute nicht, wie die Schachtel in meine volkseigene Anstaltsjacke gelangte. Sie war mein, gehörte mir, mir allein. Ich klemmte die Kostbarkeit in die Achselhöhle und dachte nur daran, wie ich meinen einzigen Besitz bewahren konnte.
    In unserm Schlafsaal gelang es mir, die Schachtel unbemerkt zwischen Laken und Matratze zu schieben. Während des ganzen Abendbrots hatte ich Angst, jemandkönnte mir meinen Schatz rauben. In der Nacht, als alle grunzten, trennte ich mit einer Rasierklinge die Naht der Matratze auf und schob die Buntstifte hinein. Jetzt musste ich mir nur noch einen Faden besorgen und das Loch mit einer »Diebsnaht« so zunähen, dass ich die Matratze jederzeit öffnen konnte, indem ich den Knoten aufzog.
    Alles ging glatt. Tags darauf, so gegen Abend, besorgte ich mir den Faden, und am nächsten Morgen, während des Frühstücks, wollte ich im leeren Schlafsaal die Operation vornehmen. Aber das Glück war mir nicht hold.
    Gleich nach dem Wecken erschien die Wache mit den Erzieherinnen. Wir mussten in Unterwäsche im Gang zwischen den Betten antreten, und dann wurde wieder mal gründlich gefilzt – unter der Leitung des in solchen Dingen gewieften alten Aufsehers, der den Spitznamen

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