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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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alles eben erst vor mir Erschienene glitt an meinen Augen vorüber, verwandelte sich in einen irrealen Traum. Meine strengen russischen Tanten lösten mich mühsam vom Fenster der Straßenbahn, aber das Bild blieb mir fürs ganze Leben im Gedächtnis.
    In der dunklen Kirche wisperten die Tanten in ihrer Mundart lange mit einem uralten, in einen gewaltigen Bart gehüllten Opa. Der legte das Ornat an, glättete seinen Bart und verwandelte sich in einen Priester. Darauf führte er mich zu einem wassergefüllten Metallbecken und hieß mich auf einen Hocker steigen; als er Widerstand spürte, zwickte er mich schmerzhaft in den Po, packte mich an den Locken und tunkte meinen Kopf heftig ins Wasser. Ich schrie auf vor Überraschung und Schmerz.
    »Ein lauter Schrei, er ruft nach seinem Schutzengel. Erdulde es, mein Knabe, du trittst ins Leben ein. Schmerz bedeutet Leben, du musst dich an ihn gewöhnen«, sprach der alte Priester in der Dunkelheit.
    Dann führte er uns mit Singsang ein paarmal um das Taufbecken, verrichtete noch irgendeine Handlung, befahl mir, das achtendige Kreuz zu küssen, und entließ uns endlich.
    Im Dunkeln fuhren wir zurück. Das Schaufenster mit den Spielsachen konnte ich auf dem Rückweg nicht erspähen, und als ich ins Kinderheim kam, vergaß ich dieses Wunder, bis ich zufällig in das fremde Bonzenhaus gelangte, in dem unzählige Spielsachen aus der Vorkriegszeit herumlagen. In all der Vielfalt stach mir besonders eine Eisenbahn in die Augen, mit schwarzer Lokomotive auf roten Rädern, mit grünen Waggons und drei Flachwagen. Auf zweien davon standen Kanonen, auf dem dritten ein Panzer. Zuerst war ich derart überrascht und geblendet von all den Wunderdingen, die zum Greifen nahe vor mir ausgebreitet waren, dass ich nicht gleich den kleinen Jungen in schickem Hemd und kurzer Hose bemerkte, der auf einem angemalten Holzpferd saß, umgeben von Häusern, Schiffen, Zügen, Autos, Mäusen, Katzen und sonstigen Spielsachen. Er war in meinem Alter, aber wohlbehütet und gepflegt. Als er mich Klappergestell sah, erstarrte er kurz und riss die hochmütigen hellen Augen auf. Da er mein hungriges Interesse für seinen Reichtum spürte, sprang er vom Pferdchen und begann mit rosa Fingerchen seine Schätze einzusammeln; er zeigte sie prahlerisch von allen Seiten, trug sie zur Truhe und legte sie hinein. Er brüstete sich also vor mir mit seinem Reichtum. Seine Habgier machte mich wütend, und ich beging eine Sünde vor meinen Schutzengeln. Als er ein rotes Feuerwehrauto in der Truhe verstaute und sich dabei über den Rand beugte, hob ich seine dicken Pobacken an und half ihm, kopfüber in die Spielzeugkiste zu plumpsen. Der Deckel schlug von allein zu, das Schloss rastete ein, und der Kleine war eingesperrt. Er kreischte in der verschlossenenKiste, und ich machte mich rasch aus dem Staub, ohne ein einziges Spielzeug aus seinem Märchen mitzunehmen. Damals mauste ich noch nicht, sondern sah mir nur alles genau an.
Kinderheimspiele
    Unsere Spiele und Zerstreuungen im Heim unterschieden sich sehr von normalen Kinderspielen. Wir besaßen nichts, und jeder wertlose Gegenstand, den wir im Hof fanden oder auf der Straße, wenn wir ins Dampfbad oder woandershin gingen, wurde für uns zu einer Kostbarkeit. Wir sammelten alles: Knöpfe, Draht, krumme Nägel, Unterlegscheiben, Muttern, Schrauben, Röhrchen, Spulen, weggeworfene Rasierklingen, Papier- und Pappfetzen. Wir nahmen mit, was wir fanden, für alle Fälle. Das Fundgut bargen wir in Verstecken auf dem Hof und in den Schlafräumen. Dann formten wir aus diesen Zufallsstücken unseren »Traum« und spielten mit den selbstgemachten Dingen. Die Älteren bastelten zum Beispiel aus Ziegenfell und Bleiplatten, die sie weggeworfenen Akkus entnahmen, die geliebte »Majalka« 5 . Damit spielten nur die Alten, und auch nur heimlich, zwischen den Brennholzstapeln im Hof, wir Knirpse mussten Schmiere stehen. Sie spielten ums Essen – Frühstück oder Abendessen.
    Fast jeder von uns hatte ein Katapult. Den Gummi dafür zogen wir aus den Turn- oder Pluderhosen. Wir machten Jagd auf Krähen, von denen es ringsum wimmelte. Dem Schützen, der die meisten Krähen erlegte, wurde der Titel Krähenfürst oder -marschall verliehen. Die Geschosse fertigten wir aus Metalldraht.
    Ab 1944 erreichte uns amerikanische Hilfe. Ich kann nicht sagen, was wir Zöglinge davon abbekamen, wahrscheinlich waren es die Makkaroni. Die hatten wir vorher nicht gekannt. Die Kartons, in denen die

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