Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Zöglingen des Kinderheims hatte seine persönlichen Eigenheiten, die er aber vor den anderen verbarg. Wir Knirpse durften nur so viele haben, wie uns zustanden, das heißt, so viele der älteste Alte oder der stärkste Zimmergenosse erlaubte. Wir redeten einander mit unseren Spitznamen an und vergaßen mitunter die richtigen Namen.
Ich war stets darauf bedacht, mich in keinerlei Streitereien oder Fehden einzumischen und mich für die Dauer von Auseinandersetzungen möglichst unsichtbar zu machen. Das gelang mir mit der Zeit recht gut – ich verschwand wie ein Schatten, verschmolz, klapperdürr, wie ich war, beinahe mit der Wand. Das brachte mir die Spitznamen »Schatten« und »der Unsichtbare« ein. Wenn ich damals überhaupt irgendwelche Fähigkeitenhatte, dann auf dem Gebiet des Verschwindens. Ich löste mich in Luft auf, wenn es nötig war oder einfach wenn ich es wollte. Die Wächter wunderten sich: Eben war er noch da, und plötzlich ist er wie vom Erdboden verschluckt.
Einmal wurden wir Heimkinder in einer Stadt an der Strecke nach Sibirien zur ärztlichen Untersuchung in ein Krankenhaus geführt. Unterwegs kamen wir an einem Haus mit Vortreppe vorbei. Die große verschnörkelte Tür stand einen Spaltbreit offen. Ich fühlte mich plötzlich magisch von ihr angezogen und gab dem Verlangen nach. Unbemerkt löste ich mich aus der Kolonne und gelangte in eine dunkle geräumige Diele, von der links und rechts und direkt vor mir je eine Tür abging. Ich öffnete die rechte und betrat ein von drei Fenstern erhelltes großes Zimmer mit einem schönen Kachelofen. Der Riesenraum war fast leer. Außer einem kleinen Sofa und zwei altertümlichen Sesseln sah ich auf dem sauberen Parkett eine stabile Holztruhe – eine mit Metallbändern beschlagene Kiste, deren Deckel offen stand, und ringsum lagen Unmengen der schönsten Spielsachen. Es war wie im Märchen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es auf der Welt so viel Spielzeug geben könnte.
Meine Mutter hatte nach der Verhaftung meines Vaters ihre Stellung verloren und uns bis zu ihrer Verhaftung mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten. Für Spielzeug war kein Geld da gewesen, ich musste ohne auskommen und spielte mit allem, was mich umgab: mit den Schatten an der Wand oder der Zimmerdecke, mit den Sonnenstrahlen, mit allem, was kreuchte und fleuchte – Fliegen, Käfern, Ameisen, mit den Musternder Tapeten, in deren Linien ich die Mäuler der Ungeheuer und wilden Tiere erkannte, von denen Matka Bronia mir erzählt hatte. Aus den Wasserflecken an Decke und Wänden wurden in meiner Phantasie furchterregende Unholde: Krokodile, Korkodile, wie ich sie damals nannte, oder, noch schlimmer, grimmige unheimliche Nilpferde, vor denen ich mich bis heute fürchte. Wenn mir aber etwas Dingliches in die Hände fiel, mit dem ich hantieren konnte, vergaß ich alles um mich her und fühlte mich wohl – ich war ein Schöpfer, versuchte etwas Eigenes zu erschaffen. Jeder mir zuteil gewordene Gegenstand erwies sich als etwas Abgeschraubtes, Zerbrochenes, Zerrissenes, und wenn meine Matka von ihrer Schinderei nach Hause kam, fand sie mich im Bett, von oben bis unten beschmiert, umgeben von Gerümpel, aber immer lächelnd. Eine Zeitlang fürchtete sie sogar, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.
Noch ein mit Spielzeug verbundenes Bild aus der Vorkriegszeit sehe ich bis heute vor mir. Als meine Tanten väterlicherseits erfuhren, dass auch meine Mutter verhaftet worden war, kamen sie aus ihrem altgläubigen Norden nach Leningrad mit dem Vorsatz, den Waisenjungen nach dem alten Glaubensritual der Pomorzen * taufen zu lassen, damit ihn die Engel in der Unfreiheit behüteten. Sie überredeten meinen Patenonkel Janek, ihnen den Neffen für einen Tag in Familiendingen zu überlassen, und fuhren mit mir in einer roten Straßenbahn mit zwei Waggons endlos lange durch die ganze Stadt, um mich heimlich in die Marienkirche des Dorfes Rybazkoje zu bringen. Sie wussten ja nicht, dass Matka Bronia mich schon nach katholischem Brauchhatte taufen lassen. An einer Haltestelle sah ich durch die Straßenbahnscheibe das riesige Schaufenster eines Geschäftes und darin lauter bunte Spielsachen. Flugzeuge, Panzer, Autos, Elefanten, Bärchen, Pferdchen, Mäuschen, Häuschen, Bälle und viele mir unbekannte, aber sehr interessante Sachen füllten das ganze Schaufenster von oben bis unten. Ich klebte an der Scheibe und starrte gierig auf diese Herrlichkeit, aber da fuhr die Straßenbahn an, und
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