Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Land, selbst gewählt und nur halbmutig, weil immerhin jeder mich verstehen konnte. Dass ich nicht jeden verstand, gab dem Ganzen eine interessante Würze. Ich brauchte kein Vokabelheft und keine Paradedeutschen, da brauchte ich nur die Lust, mich in deutlich weniger als zehn Jahren wohl zu fühlen.
Mein Seminar Über das Problem der Historisierung von Essensgeschmack fand nicht statt. Streik stand an der Tafel, und jetzt erst fiel mir auf, dass ich außer Hartmut niemanden im Gebäude gesehen hatte. Ich lief die fünf Stockwerke hinunter. In jedem Stock sah ich den Paternoster hämisch grinsen.
»Grüß Gott. Sie werden hier bei uns natürlich niemals im Radio sprechen dürfen«, sagte der ORF-Abteilungsleiter, zu dem mich Toni mitnahm, ohne Umschweife. Ein freundlicher älterer Herr, der einen Sohn hatte, der im gleichen Alter war wie die Mitarbeiter der Jugendredaktion. Sein Sohn bekam von ihm noch Taschengeld. Dass ich mehr als sein Sohn bekommen sollte, leuchtete ihm nicht ein.
»Aber wir arbeiten für das Geld«, versuchte Toni ihm zu erklären.
»Mein Sohn auch. Er räumt sein Zimmer auf und bringt den Müll raus«, sagte der Abteilungsleiter.
»Jetzt siehst du mal, wie über unsere Sendung gedacht wird«, sagte Toni zu mir. »Radio wie rausgebrachter Müll.« Sie schüttelte ihre rote Mähne.
»Gut, Toni. Wenn du meinst, kann er hier anfangen. Aber ich würde vorschlagen, er macht diesen Sprachkurs. Diesen Entpiefkenisierungskurs.«
»Entschuldigung, was? Wozu?«, fragte ich. »Ich werde doch sowieso nicht zu hören sein, warum soll ich dann einen Sprachkurs machen? Ich bin ganz zufrieden damit, wie ich rede.«
»Für die sozialen Kontakte am Gang. Muss ja nicht jeder sofort merken, dass Sie ein Deutscher sind.«
»Er könnte ja so tun, als wäre er stumm«, schlug Toni vor.
Der Abteilungsleiter ließ nicht locker. »In dem Entpiefkenisierungskurs lernt er, so zu sprechen, wie man an der ›Josefstadt‹ spricht. Ein neutrales Hochdeutsch, ohne diese bundespiefkenesischen Einsprengsel. Kurs oder servus«, sagte er.
»Also gut«, sagte Toni. »Ich werd ihn zur Sprachwächterin bringen. Die wird ihm sein deutsches Goscherl schon richten.«
Ich hatte erwartet, dass er mit mir über mögliche Sendungen spricht, über meine großen Ideen, über mich, mein Leben, meine nicht vorhandene Ausbildung. Aber alles, was ihn interessierte, war mein Akzent. Dass der so schauerlich ist, war mir bisher nicht bewusst gewesen. Ich sprach eigentlich ganz normal, dachte ich. Ich sagte »Kirche« und nicht etwa »Kirsche«, ich fuhr nicht »na Nüss« sondern »nach Neuss«, ich klang nicht wie ein rheinischer Büttenredner. Aber dennoch schmerzte ich den Wienern in den Ohren.
Ich beschloss, in der Uni möglichst wenig zu reden, bis der Entpiefkenisierungskurs erste Früchte tragen würde. Aber die Uni war ausgestorben, dort konnte ich ohnehin gerade niemandem weh tun, wie ich feststellte, als ich am Nachmittag das Seminar Die Geschichte des Trinkens besuchen wollte. Der Paternoster blieb menschenleer.
Am späten Nachmittag ging ich die Landesgerichtsstraße Richtung Mariahilfer Straße, vorbei am Rathaus und am Volkstheater. Nach einer Abkürzung durch den Messepalast war ich plötzlich umgeben von Menschen, die für oder gegen irgendetwas demonstrierten. Ich hatte keine Ahnung, wofür oder wogegen, aber auch in Deutschland war ich auf vielen Demonstrationen gewesen, ohne Genaueres darüber zu wissen.
Offenbar war es in Österreich verboten, auf Demonstrationen einen gewissen Lärmpegel zu überschreiten. In Düsseldorf marschierte man über die Königsallee und skandierte lautstark »Feuer und Flamme für diesen Staat!« oder was gerade so anstand. Hier hingegen war alles ruhig, wie auf einer Prozession. Vielleicht waren Demos in Österreich so etwas wie ein großer Klassenausflug?
Immer wieder scherten Gruppen von Demonstranten aus und verschwanden in Kaffeehäusern. Mit Mehlspeisen in der Hand kamen sie wieder heraus. Mampfend und die Stadtzeitung Falter lesend, gingen sie in gemütlichem Tempo wieder in der Demo mit.
Neben mir stapfte ein Schweizer Austauschstudent durch den schmutzigen Schnee. »Was soll denn das für eine komische Demo sein?«, spottete er. »Die Polizisten haben keine Helme auf, sie haben kein Funki, nicht mal einen Hund hat es hier! Das ist ein Spaziergang, sonst nichts!«
Er schien enttäuscht zu sein. Und mir war kalt. Ich stapfte durch den Schnee nach Hause und heizte den Holzofen
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