Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Apfelstrudel zu beschmeißen. Der gute Strudel! Nun hatten die Polizisten aber schon eine Eierspeis auf dem Tisch, und dazu eine ganze Flasche mit steirischem Kernöl. Die fällt um und läuft aus. Das war vielleicht ein Gatsch: der Strudel, die Rosinen, das Kernöl, die Eierspeis. ›Das gute Kernöl‹, schreit die Kellnerin, und sie hat ja recht. Das Kernöl ist das Beste an unserem gschissenen Land, deswegen nennt man es auch das steirische Gold. Ich versteh nicht, warum uns die OPEC nicht aufnimmt. Exportieren wir das Kernöl nicht auch? Sind wir nicht auch ein ölexportierendes Land?«
»Ihr müsstet vielleicht Tankstellen bauen, mit Zapfsäulen, aus denen Kernöl kommt. Du fährst mit deinem Salat an die Zapfsäule und gießt so viel drüber, wie du dir leisten kannst«, schlug ich vor.
»Oder mit der Eierspeis«, sagte Robert. »Rührei«, übersetzte er für mich.
Ich ging in die Küche und nahm die Espressokanne. Ich zögerte, dann füllte ich das Sieb randvoll mit Kaffeepulver und kippte ein Schnapsglas voll Wasser in die Kanne. Der fertige Kaffee hatte die Konsistenz von Schlamm. Robert nahm einen Schluck, ließ sich aber nichts anmerken. Er sprach allerdings auch kein Wort, sondern erhob sich mit starrem Blick und lief zielsicher ins Bad. Ich hörte, wie er ausspuckte.
»Findest du es eigentlich sehr hässlich, wie ich rede?«, rief ich ins Bad.
»Das Bundesdeutsche? Na ja, schön ist’s nicht. Klingt irgendwie uncool, so wie der Anzug von Helmut Kohl oder wie ein Aktenordner«, antwortete er, noch leicht gurgelnd. »Aber auch gscheit. Wenn du dich an der Uni meldest und sagst, dass du pinkeln musst, wird ein Raunen durch den Raum geht. Pfoah, ist der gscheit, werden sie sagen. Weil du hochdeutsch sprichst. Fad, aber intelligent klingt’s, nicht mit so viele Fehler, die wos wir mocha.« Er lachte.
»Du meinst, die finden mich hier klug, weil ich hochdeutsch pinkeln kann?«
»Exakt, Deutscher. Davor haben wir Respekt. Weil ihr das besser könnt: hochdeutsch pinkeln. Wir Österreicher brunzen wie die Bauern und schiffen wie die Schweine, aber ihr? Macht euer ›kleines Geschäft‹.«
Die Jeans, in die ich den Meldezettel geknüllt hatte, wusch ich einige Tage später. Der Zettel sah danach aus, als sei er in eine Wasserstoffbombe geraten. Das war gefährlich. Der Meldezettel war der Beweis der Existenz in dieser Stadt. Ohne ihn war man schlichtweg nicht da. Dass der Wisch mitsamt der Jeans in die Waschmaschine geraten war, deutete ich als den ersten Versuch einer unsichtbaren Macht, mich aus Wien schnellstmöglich zu entfernen. Die Macht, die sonst Socken einzeln aus der Waschmaschine kommen lässt, hatte versucht, mich aus der Stadt zu werfen.
Ich besorgte mir eine Kopie des Meldezettels, in doppelter Ausführung, beglaubigt mit einem Berg von Stempelmarken. Aber die Macht ließ nicht locker.
Vor dem Ende des Ersten Weltkriegs
gab es in Wien 100 000 Beamte, die das riesige Habsburger Reich verwalteten, von Galizien bis Triest, von Vorarlberg bis Bosnien. Nach dem Krieg verlor Österreich den Großteil seiner Gebiete, aber kein Beamter seinen Job. Vom Wasserkopf Wien spricht man seitdem, und so ein Wasserkopf saß mir nun 1993 gegenüber. Seine Bewegungen erinnerten mich an ein Daumenkino mit zu vielen Bildern.
Bevor Österreich in die EU eintrat und der damalige sozialdemokratische Kanzler mit dem damaligen konservativen Vizekanzler gemeinsam die Internationale sang aus Freude über den Beitritt, mussten auch Deutsche einmal jährlich zur Fremdenpolizei, um die Aufenthaltsgenehmigung verlängern zu lassen.
Ich hatte meinen kleinen, gelben Fremdenpass dabei. Gelb fand ich als Farbe für einen Fremdenpass etwas ungewöhnlich, aber man musste ihn ja wenigstens nicht am Mantel tragen. Nur wer schon sechs Jahre lang Steuern in Österreich zahlte, musste nicht mehr jährlich zum Fremden-TÜV. Das war eine nicht unerhebliche Erleichterung, denn bei der Fremdenpolizei oder beim Magistrat musste man mehrere Tage einplanen, bis man alle Unterlagen und Stempelmarken beisammenhatte.
Auf dem Amt gab es Holzöfen, klapprige Holzstühle aus dem 19. Jahrhundert und abbröckelnden Mörtel, der von der Wand ins Haar fiel. Damen mit Dutt wurden so zu Mörtelsammlerinnen. Wenn sie zu Hause die Haare ausschüttelten, konnten sie neue Wände errichten. Man trat in entweder überhitzte oder frostige Zimmer, in denen Magistratsbeamte saßen, die selten Gnade kannten.
Eine junge Frau saß neben mir im
Weitere Kostenlose Bücher