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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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sie sich umschauen ließ. »Wir sind ein berühmtes Kaffeehaus, nicht wahr, Inge?«
    Die alte Frau drehte sich zu uns und nickte.
    »Die ›Donauwelle‹ war sehr berühmt. Die Freier kamen von über der Donau bis daher. Jaja. Nicht – früher. Als der Naschmarkt noch der Futmarkt war. Nicht?« Sie kicherte, und der Puppenspieler drehte sie. »Die leichten Mädchen. Jaja. Nicht, Inge? Nicht? Jaja. Nicht?« Sie beugte sich zu mir herunter und klatschte in die Hände.
    »Die Inge war eine der beliebtesten Damen am Futmarkt. Da sind die Freier gekommen aus Graz und Linz!« Sie nickte mir Zustimmung heischend zu. Dann richtete sie sich wieder auf und rief: »Inge, gell? Ich hab dem Herrn gesagt, dass du das beste Pferd im Stall warst, und die Hengste hast du alle gamsig gemacht, gell? Jaja, so war’s, der Futmarkt und die Inge – wollen Sie noch einen Tee? Um acht beginnt die Vorstellung, jaja.«
    Erst später erfuhr ich, was mit der Vorstellung gemeint war. Maria, so hieß sie, hatte in ihrer Jugend ein Gesangsstudium gemacht. Da kein Theater sie engagierte, eröffnete sie ihr eigenes Café, in dem sie allabendlich auftrat. Das »Café Donauwelle« hatte keine Bühne, aber einen Billardtisch. Auf diesem trat sie auf. Voller Inbrunst sang sie Millöcker-Operetten und Schubert-Lieder. Schauerlich, aber voller Enthusiasmus. Die »Donauwelle« war deshalb gut besucht und sie die Königin der Nacht auf ihrer Bühne aus Filz und mit Löchern in jeder Ecke. Die Rolle der Wirtin lag ihr allerdings weniger gut als die der Sängerin.
    Ich trank meinen Tee aus und nickte der alten Frau am Fenster zu, als ich das Café verließ. Von draußen sah ich durch die Schneeflocken noch einmal ins Lokal. Inge sah hinaus. Auf was sie wohl wartete? Aufs Wann und Wie? One und oui?
    Als ich meine Wohnungstür aufschloss, hörte ich laute Stimmen im Treppenhaus. Ich erkannte die Stimme meiner brustamputierten Nachbarin. Als sie den zweiten Stock erreichte, wehte mir starker Alkoholwind entgegen. Sie war voller Schnee, ein dünner Marokkaner hielt sie im Arm. Sie murmelte Unverständliches und suchte unkontrolliert in ihrer Tasche nach dem Wohnungsschlüssel.
    »Ich war im Museum«, lallte sie. Darauf wäre ich bei ihrem Anblick nicht gekommen. Das Museum musste sie so beeindruckt haben, dass sie das Erlebte nur mit sehr viel Fusel hatte verarbeiten können.
    »Was für ein Museum?«, fragte ich.
    »In Meidling. Das Schnapsmuseum«, sagte sie, prustete los und fiel auf die Knie. Der Marokkaner bearbeitete inzwischen mit einem Stemmeisen ihre Wohnungstür.
    Am nächsten Tag traf ich Hartmut im Neuen Institutsgebäude der Universität. Er stand vor dem Paternoster, aber ich nahm lieber die Treppe. Natürlich wusste ich, dass sich die Fahrgastkabine oben nicht drehte und alle kopfüber runterfielen, die es nicht geschafft hatten, rechtzeitig auszusteigen. Aber man muss das Glück nicht erzwingen, dachte ich.
    »Wie. Echt? Du arbeitest beim Orff?«, keuchte Hartmut neben mir auf dem Weg in den fünften Stock. »Ich dachte, der ist tot. Was arbeitest du denn da?« Hartmut war verwirrt.
    »Nicht der Orff – der ORF. Nicht Carmina Burana , sondern Radio«, sagte ich.
    Der Wienexperte Hartmut war fassungslos. »Das gibt’s doch nicht, du verarschst mich, oder? Wieso solltest du beim Radio arbeiten? So ein Blödsinn.« Er war verunsichert. Und blieb stehen. Auch, weil ihm die Luft fehlte.
    »Ich muss weiter«, sagte ich und nahm zwei Stufen auf einmal.
    »Wart mal, das musst du mir genauer erklären. Wir haben heute Abend Deutschenstammtisch im ›Café Stein‹. Wir treffen uns da zweimal im Monat. Nur Deutsche. Wir sind sieben Mann. Wart doch mal!«
    Ich wartete nicht. Was für eine furchtbare Vorstellung. Ein Deutschenstammtisch? Ein Tisch voller Deutscher war nicht der Grund gewesen, Deutschland zu verlassen. Womöglich saßen sie da mit schwarzrotgoldenem Wimpel und dünnem deutschen Kaffee. Ich dachte an Roberts Vorstellung von einer Bohne pro Liter, und ich stellte mir sieben Männer vor, alle mit Fortunakinn, die nach deutschem Schwarzbrot schreien. Deutschland fürchtet nicht andere, sondern sich selbst , hatte ich auf einer Toilettentür in Düsseldorf gelesen. Ich fürchtete eher die anderen Deutschen. In Wien zum Deutschenstammtisch zu gehen war, wie mit achtzehn mit den Eltern Urlaub zu machen oder mit dem Vater zusammen auf Interrail zu gehen und dabei von Gleichaltrigen gesehen zu werden.
    Ich war jetzt hier: allein in einem fremden

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