Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Alter.
»Das ist Dirk. Er arbeitet jetzt auch bei uns.«
Niemand nahm von mir Kenntnis. Ein Tiroler sagte »Servus«. Aber nicht zu mir, sondern in ein Telefon.
Das war’s. Nach nicht mal siebzig Stunden in Wien war ich beim Radio.
»Wieso machst du das für mich?«, flüsterte ich Toni zu.
»Du hast mich gestern Nacht getragen. Jetzt trag ich dich«, antwortete sie. Mir war nicht klar, ob sie damit irgendeinen Roman zitierte, ließ es aber dabei bewenden.
Am Abend ging ich zu Fuß nach Hause. Es schneite noch immer. Der Weg führte die Argentinierstraße hinunter, über den Karlsplatz, vorbei an der Technischen Universität, an der ein Schild informierte, dass an dieser Stelle 1741 Antonio Vivaldi auf dem Armesünder-Gottesacker beerdigt worden war. Ich ging weiter Richtung Secession, vorbei an der Evangelischen Schule. »Host an Schü?«, fragte mich ein Junkie. Ich gab ihm fünf Schilling.
Am »Naschmarktstadl« bestellte ich mir eine Wurst.
»Burenwurscht, Käsekrainer, Debreciner, Waldviertler, Frankfurter, Semmerl, Scherzerl, süßer Senf, scharfer Senf – Sie müssen Eahna scho deklarieren, wos wolln«, sagte die Frau, die ich als Frau Resch kennenlernen sollte. Der jaruzelskihafte Mann neben mir grunzte zustimmend. Nachdem sie ihn mit der Wurstzange erzogen hatte, aß ich still meine Käsekrainer mit süßem Senf und einem scharfen Pfefferoni. Der Restalkohol vom Vortag verlangte nach Fett und Würze.
»A Bier?«, fragte Frau Resch.
»Ja, gerne«, antwortete ich.
»Schwechater, Zipfer, Ottakringer, Puntigamer – Sie miassn scho sogn, was Sie trinken wolln. Kommen Sie aus Deutschland?«
»Ja.«
»Net leicht. Die Leit da mögen Deutsche nicht, aber das merkens wahrscheinlich eh. A Kundin von mir kommt aus Berlin. Sie sagt, zehn Jahre braucht man als Deutscher, bis man sich da wohl fühlt. Wollen Sie sich das antun?«
»Ich weiß nicht. Klingt nicht so verlockend. Zehn Jahre, bis man sich nicht mehr unwohl fühlt? Ich bin erst ein paar Tage hier. Aber ich fühl mich bis jetzt ganz wohl.«
»Vielleicht habens an Defekt«, sagte Frau Resch und gab mir ein Zipfer-Bier.
»Ja, vielleicht.«
Ich nahm einen Schluck. Wir schwiegen. Frau Resch legte die verschiedensten Würste auf den Grill.
»Deitsche«, sagte sie plötzlich. »Ich bin manchmal oben. Wenn man die Leut kennt, sans eh gmiatlich. Gmiatliche Leit. Kommod. Nicht so präpotent, wie man glauben möcht.«
Ich trank mein Bier aus und begann zu zittern. Es war deutlich kühler geworden.
»Gehens z’Haus, sich aufwärmen«, riet sie mir. Ich zahlte und wünschte ihr einen guten Abend.
Ich schlurfte zwischen dem Theater an der Wien und dem Feinkostladen »Piccini« in die Millöckergasse. Durchs Fenster vom Theater an der Wien konnte ich in den Schminkraum sehen. Auch heute Abend wurden die Tänzer zu Katzen geschminkt. Sie taten mir furchtbar leid.
»Guten Abend«, kam es von der Seite. Vor dem »Café Donauwelle« stand eine Frau. Sie wirkte wahlweise wie die Türsteherin einer Nervenklinik, eine chinesische Konkubine im Ruhestand oder das Plakat eines Fellini-Films. Sie war um die siebzig, weiß geschminkt und hatte grelle rote Lippen. Da mir kalt war, ging ich auf einen Tee hinein. Das Bier war keine gute Idee gewesen. Der Tee allerdings auch nicht. Die geschminkte Frau war von jeder Bestellung überfordert, klatschte regelmäßig in die Hände und bewegte sich wie die Figur eines Puppentheaters. Sie drehte sich und ihren Kopf und sagte: »Ja, jaja. Ein Tee. Natürlich, sofort. Ein Tee, jaja.«
Sie trug ein buntes Haarband und ein billiges Abendkleid. Die Lippen spitzte sie auch beim Reden. »Jaja, sofort, ein Tee«, wiederholte sie und verschwand.
Um diese Zeit waren noch nicht viele Besucher da. Der Schnee trieb die Wiener nicht gerade aus ihren vier Wänden, auch auf der Straße waren nur wenige Menschen. Eine sehr alte Frau saß am Fenster, an einem kleinen Tisch für zwei Personen. Sie trank Cognac, hatte kurze Haare und lackierte Nägel. Ihr Busen war zu groß für das rostbraune Kostüm, das sie trug.
Die Geschminkte bog mit einer dampfenden Tasse um die Ecke. »Ihr Tee, jaja. Ihr Tee.« Sie schob den Mund vor und spitzte die Lippen.
»Ihr Tee«, wiederholte sie.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ein schönes Café haben Sie hier.«
Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand wie ein kleines Mädchen. »Ja, nicht wahr? Jaja, nicht?« Sie kicherte erneut und drehte sich wieder, als steckte in ihr die Hand eines Puppenspielers, der
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