Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Wartezimmer. Während sie sich den Mörtel aus dem Haar schüttelte, sagte sie: »Ich komme aus Ostberlin. Ich hab einen Wiener geheiratet. Wien ist mir so vertraut. Verrückt. Wien ist wie Ostberlin. Westberlin ist mir fremd.«
»Vielleicht, weil der Adler im österreichischen Wappen Hammer und Sichel in den Krallen trägt?«, schlug ich vor.
»Nein, weil alles so ist wie bei uns. Nur dass es hier mehr Jugoslawen gibt als in Zwickau. Wie lang bist du schon in Wien?«
»Sechs Jahre bin ich hier. Heute ist das letzte Mal, dass ich jährlich herkommen muss.«
»Gratuliere«, sagte die Ostberlinerin.
Ich schien aufgerufen worden zu sein. Eine leise, kraftlose Stimme hatte, wie mir schien, aus dem Zimmer neben mir meinen Namen gerufen. Ich erhob mich und klopfte. Niemand rief »Herein«. Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich vor der verschlossenen Tür, traurige Jugoslawen saßen an den Wänden und sahen mich aus dunklen Augen an. Sie hoben die Schultern, denn sie wussten auch nicht, ob ich hineingehen sollte. Ich öffnete die Tür.
»Hat da irgendwer ›Herein‹ gerufen?«, kam es mir entgegen.
»Nein.«
»Also. Gschwind die Tür.«
Ich zog die Tür wieder zu. Einige Minuten stand ich davor, bis es selbst mir zu blöd wurde. Neben der Ostberlinerin saß inzwischen eine Kroatin. Ich setzte mich daher zu einem Bosnier, der einen blutigen Verband ums Ohr trug.
»Arbeitsunfall?«, fragte ich.
»Nein, ich war am Wochenende in Srebrenica. Ich fahr am Wochenende immer in den Krieg.«
Ich hatte davon gehört, dass viele jugoslawische Gastarbeiter am Freitagabend nach der Arbeit zum Südbahnhof und von dort mit dem Bus ins Kriegsgebiet fuhren. Ich hatte die Busse gesehen. Groß standen die Zielorte auf Schildern hinter der Windschutzscheibe, Orte, die man nur aus den Fernsehnachrichten kannte. Srebrenica, Priština, Sarajevo, Tuzla, Vukovar, Mostar. Kroaten, Serben, Kosovoalbaner und Bosnier arbeiteten die ganze Woche über friedlich nebeneinander in Wien, dann kämpften sie zwei Tage lang gegeneinander, schossen aufeinander, und am Montagmor-gen standen sie wieder in den gleichen Fabriken nebeneinander.
»Blut ist kein Wasser«, sagte der Weekend-Soldat etwas martialisch.
»Das Glück is a Vogerl«, ergänzte eine alte Dame mit maßlos übertrieben geschminkten Augenbrauen und rosafarbenem Lidschatten, die uns gegenübersaß. Ich kannte sie von meinen früheren Besuchen bei der Fremdenpolizei. Sie war Wienerin und kam hierher, weil sie nur hier sichergehen konnte, keine Wiener zu treffen. Sie mochte keine Wiener.
»Das Einzige, was schlimmer wäre als 80 Millionen Deutsche, wären 80 Millionen Österreicher«, war ihr Credo, und genau das sagte sie jetzt auch.
Der Bosnier sah sie teilnahmslos an. Ein Serbe las Handke. Endlich hörte ich durch die Zimmertür ein vernuscheltes und genervtes »Herein«.
Der Wasserkopfbeamte wies mich wortlos auf einen wackeligen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Da saß ich nun. Es herrschte Stille im Raum. Irgendwo rauschte eine Wasserspülung.
»Abgemeldet nach BRD«, sagte er unvermittelt, in einem Tonfall, der ähnlich traurig war wie der Anblick des Zwergkaktus, der auf einer Untertasse vor ihm stand. Die Untertasse hatte einen Sprung, Kaffee und Nikotinflecken hatten ein ekliges Muster aufs früher mal weiße Porzellan gebrannt.
»Wieso abgemeldet? Ich bin doch hier«, erwiderte ich lächelnd.
Ich legte dem Mann meinen Meldeschein auf den Schreibtisch, auf dem klar und deutlich stand, dass ich seit sechs Jahren im 6. Bezirk wohnte. Papagenogasse. Ich zeigte ihm sogar einen zweiten Meldezettel. In Wien hat man mehrere Meldezettel, und auch auf diesem stand fett: Papagenogasse, 1060 Wien .
»Wurscht. Bei mir steht, Sie sind abgemeldet nach BRD.«
»Wenn schon, dann in die . In die BRD. Abgemeldet in die BRD, heißt es. Aber ich bin gar nicht abgemeldet.«
»Bei mir schon! Wenn Sie sich wieder anmelden wollen, müssen Sie einen Antrag stellen.«
»Ich muss keinen Antrag stellen, weil ich nämlich hier gemeldet bin. Seit sechs Jahren! Verstehen Sie?«
Er starrte mich an, wie man ein Insekt anschaut, das gleich einem Fisch zum Fraß vorgeworfen wird. Langsam und genüsslich schob er mir meinen Meldeschein rüber. Dort standen mein Name, mein Geburtsdatum, Papagenogasse, 1060 Wien und Abgemeldet nach BRD .
Hatte ich mich betrunken selbst abgemeldet? Im Suff Heimweh bekommen nach BRD? An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine aus einer Zeitung gerissene Karikatur.
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