Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Tschechen. Keine Brasilianer oder irgendwelche fröhlichen Völker. Die Balkanesen haben ihre Wut mitgebracht, die Ungarn ihre Lebensmüdigkeit. Wusstest du, dass die Ungarn mit den Finnen zusammen die höchste Selbstmordrate haben? Das macht uns fertig, dass wir nicht mal in dieser Statistik vorne liegen. Wir sind ein kleines Land, aber die Leute haben große Bedürfnisse. Da bellen sie halt laut, um zu zeigen, dass sie da sind. Aber sie beißen nicht, weil sie wissen, dass sie zu kleine Zähne haben.«
Ein gelber VW Käfer hielt neben uns. Ein sehr alter Mann kurbelte die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter. »Möchten Sie da im Schnee sitzen oder kann ich Sie mitnehmen?«
Wie sich herausstellte, war er der Bürgermeister von Fischamend. Und obwohl wir ihn noch nicht mal wählen konnten, brachte er uns bis in die Argentinierstraße vor das ORF-Funkhaus. »Sagens einmal ›Oachkatzlschwoaf‹«, forderte er mich zum Abschied freundlich auf.
Obwohl es erst später Vormittag war, war die Straßenbeleuchtung bereits eingeschaltet. Die Flocken umkreisten das gelbliche Licht. Die Argentinierstraße ist abschüssig, man sah bis auf den Karlsplatz. Die beiden Türme der Karlskirche und die Kuppel wirkten unwirklich, wie eine Moschee mit Minaretten. Als schneite es in Istanbul.
Vor der sowjetischen Botschaft standen traurige Soldaten. Der Schnee erinnerte sie wahrscheinlich an zu Hause und daran, dass die Sowjetunion in den letzten Zügen lag. Bis zum Staatsvertrag 1955 waren Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen in Wien gemeinsam Besatzer gewesen und hatten die Stadt in vier Sektoren aufgeteilt. Nur der 1. Bezirk wurde von allen vieren gemeinsam verwaltet. Trotz Kalten Krieges saßen dort in jedem Jeep ein Russe, ein Amerikaner, ein Engländer und ein Franzose. Die Vier im Jeep. Jeder misstraute jedem. Wien war ein großartiger Ort für Agenten und Ganoven. Nicht nur der Dritte Mann , auch die ersten beiden und die nachfolgenden sorgten in der schweren Nachkriegszeit für Erleichterung und Verschärfung zugleich. Sie schmuggelten und hehlten Wien am Leben.
Die Russen hatten sich bei der Eroberung von Wien sofort für den 4. Bezirk entschieden, weil dort das Funkhaus stand. So machten die Russen es im Krieg immer: Immer zuerst das Radio. Sie zogen in das rosafarbene Palais Kranz gegenüber des Rundfunks, von den Fenstern ihrer drei Stockwerke aus konnten sie den Redakteuren auf die Manuskripte schauen.
Mit dem Staatsvertrag schrumpfte der Einfluss der sowjetischen Gäste aufs Programm. Der damalige Außenminister Figl war ein trinkfester Mann, der es sogar mit den Russen aufnahm. Er lud den UdSSR-Außenminister Molotow zu einem Zechgelage, und am Ende lag der Russe unter’m Tisch und die Schuldklausel war aus dem Staatsvertrag gestrichen. Österreich durfte sich ab nun offiziell als erstes Opfer der Deutschen bezeichnen. Figl war hackedicht, aber das Land war reingewaschen.
Ein paar Hundert Meter vom Funkhaus in der Argentinierstraße entfernt liegt das Schloss Belvedere, wo der Staatsvertrag unterzeichnet wurde. »Österreich ist frei«, lautete Figls legendärer Ausruf. »Österreich isst Brei«, sagte meine Frau Sophie später gern, wenn sie unsere Tochter Kina fütterte. Aber die beiden waren damals im Schneegestöber auf der Argentinierstraße noch mehrere Frühlinge entfernt.
Toni besorgte mir beim Empfang einen Besucherausweis. »Ich darf dich recht herzlich im Namen der Geschäftsführung des Österreichischen Rundfunks begrüßen«, sagte sie. »Mahlzeit.« Es war elf Uhr. »Zwischen elf und fünfzehn Uhr sagt man im ORF ›Mahlzeit‹, wenn man jemandem am Gang begegnet«, klärte sie mich auf. »Merk dir das. Sonst ›Grüß Gott‹ – wichtig ist jedenfalls, dass du grüßt.«
»Mahlzeit«, antwortete ihr ein hagerer Mann um die fünfzig. »Wie geht’s?«
»Gschissen«, lächelte Toni. »Und dir?«
»Mir auch. Mir geht’s wirklich beschissen!«, sagte der Hagere in seinem schlecht sitzenden Anzug. Er nickte mir zu.
»Mahlzeit«, sagte ich vorsichtig.
»Habt ihr schon wieder Nachwuchs bekommen?«, fragte der Hagere.
»Ja. Er macht mit mir die Lauda-Sendung.«
»Leihgabe vom WDR oder was?« Er musterte mich.
Sie zog mich weiter den Gang entlang. Wir nahmen den Aufzug in den vierten Stock. Toni öffnete eine gewaltige gepolsterte Tür, und wir betraten einen großen Sitzungssaal. Um einen fünfzehn Meter langen Tisch saßen genauso viele Leute. Einer pro Meter. Alle in Tonis und meinem
Weitere Kostenlose Bücher