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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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durch den dicken Schlamm zu waten, um nach dem Hochwasser die Kanäle rechtzeitig zu säubern, bevor der Schlamm hart wird wie Beton. Lustig sehen die kleinen, bunten Häuser auf Stelzen aus. Manche sind gerade mal vier Quadratmeter groß und dienen nur als Liegestuhl- und Schirmgarage, andere sind richtige, ausgewachsene Häuser mit zwei Etagen und großem Garten. Die ganze Siedlung wirkt wie die Kulisse einer Gulliver im Lande Lilliput -Verfilmung. Wie ein Wohnübungsplatz für Kinder. Auf dem Verkehrsübungsplatz lernen sie die Verkehrsregeln, hier das Leben in der Reihenhaussiedlung.

Mein Freund Frank, ein blonder Hüne
    aus Emden mit unfassbar dicken Waden, hatte sich in Kritzendorf einmal für einen Monat ein kleines Haus gemietet, um ein Buch über »Solidarität« zu schreiben, für einen kleinen politischen Bildungsverlag aus Schaan in Liechtenstein. Solidarität in der EU. Wie die Großen die Kleinen unterstützen können , so sollte das Buch heißen.
    »Und was willst du da genau schreiben?«
    »Mal sehen. Ich werd schon was schreiben, keine Sorge«, sagte Frank, der die 5000 Euro Vorschuss bereits »investiert« hatte. »Ins Leben«, wie er sagte.
    Frank wäre gern der Österreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung geworden, schrieb aber für das etwas bedeutungslosere liechtensteinische Vaterland über den genauso bedeutungslosen Fußball in Österreich. Das Vaterland steht in kritischer Treue zum Fürstenhaus, genau wie Frank. Seine Freundin Katharina ist eine gute Freundin der Fürstentochter Tatjana, die ihm den Job verschaffte.
    Bei einem Thailand-Urlaub hatten die thailändischen Zöllner ihm die Unterschenkel aufschneiden wollen, weil sie sicher waren, dass derart dicke Schenkel unmöglich natürlich sein können, und vermuteten, dass er Drogen in den Waden schmuggeln wollte. Seine Waden waren dicker als die Oberschenkel der Thaizöllner. Sogar dicker als die Zöllner selbst. Beim zollamtlichen Abtasten wurde er schlagartig zu einem verehrungswürdigen Wesen. Jeder wollte einmal an dieser Riesenwade drücken.
    Die Frauen liebten Franks dicke Waden. Sie waren so fleischlich, fast wie Brüste unterm Knie oder »wie ein Schwanz unterm Strumpf«, findet Robert.
    »Mein Vater hat noch dickere Waden«, erzählte mir Frank stolz. »Die Evolution hat allen Friesen solche Waden geschenkt. Falls die Deiche brechen, stellen wir uns einfach breitbeinig vors Haus und schützen so Hof und Leute.« Ich wusste nicht, ob ich das glauben sollte, aber immerhin gab es ein Foto, auf dem Frank mit seinem Bruder am Strand liegt, und die vier Waden sehen aus, als wögen sie zusammen 100 Kilo.
    Ich lernte Frank in der deutschen Botschaft in der Metternichgasse kennen, als wir beide unsere Reisepässe verlängern lassen mussten. Dass sich die deutsche Botschaft in der Metternichgasse befindet, war mir immer unangenehm. Metternich hatte in Österreich im 19. Jahrhundert einen Polizeistaat errichtet. Die Österreicher wurden von seinen Beamten bespitzelt, das freie Wort wurde unfrei und verklausuliert, man wurde vorsichtig und achtete ängstlich darauf, mit seiner Meinung nicht hörbar zu sein. Bis heute gehört in Wien ein leises »Jein« bei jedem Gespräch dazu, klare Aussagen werden elegant umschifft, und lehnt man sich einmal zu weit hinaus, wird es als spielerisch abgetan – man hat es ja eh nicht so gemeint. »Das ist ihm rausgerutscht, soll Schlimmeres geschehn.«
    Dank Metternich war schon lange vor der Stasi die Saat gelegt worden, seinen Nachbarn zu beobachten, zu belauschen und für den eigenen Vorteil bei der Obrigkeit anzuschwärzen. Als die Gestapo 1938 zur Denunziation aufrief, erhielt sie so viele Reaktionen, dass verlautbart werden musste, sich in Wien mit dem Denunziantentum zu zügeln, weil die Gestapo mit der Arbeit nicht mehr nachkam.
    In dieser nach dem Ahnherrn der Denunzianten benannten Gasse standen prachtvolle Patrizierhäuser, ein Palais reihte sich ans nächste, die unmittelbare Nähe zum Schloss Belvedere hatte architektonisch abgefärbt. Zwischen all den imperialen, mit Löwen, Engeln und Harfe spielenden Meerjungfrauen verzierten Gebäuden prangte, eingezäunt, ein Nachkriegszweckbau: die deutsche Botschaft in Wien. Sie erinnerte mich an das Rathaus in Oberhausen oder die Stadtwerke in Lingen.
    Frank akzeptierte die deutsche Botschaft nicht. Nicht wegen Metternich oder der Neuen Heimat, die wohl der Bauträger der Botschaft war, sondern wegen der Poster an der Wand im Wartezimmer.

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