Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Man sah einen dünnen alten Mann allein in einem riesigen Ballsaal stehen, Girlanden um seinen Hals. Darüber stand: Kurt Waldheim feiert Silvester in der Wiener Hofburg im Kreise seiner Freunde.
»Und jetzt? Ich meine, wegen der sechs Jahre.«
»Jetzt fängt’s wieder von vorn an.«
Nun starrte ich ihn an, wie ein Insekt den Angler anglotzt, bevor es an die Fische verfüttert wird.
»Wie kann das sein? Ich habe mich mit Sicherheit nicht selber abgemeldet. Ist das hier so ein Kafkascheiß?«
Er lachte. »Aber nein. Kafkas Leben war das einzige kafkaeske Leben.« Er zog eine Packung Mannerschnitten aus der Schreibtischlade und steckte sich eine Schnitte in den Mund. Offenbar kamen wir zum gemütlichen Teil.
»Wahrscheinlich haben Sie einen Meldezettel verloren, jemand hat den gefunden und ist hergekommen, um Sie abzumelden.«
»Warum sollte das jemand tun?«, fragte ich.
»Vielleicht, weil Sie Deutscher sind?« Kauend musterte er mich.
»Ach so. Na ja, das wär ja verständlich«, sagte ich. »Natürlich. Aber jetzt haben wir die Sache ja aufgeklärt, nicht wahr? Dann können Sie die Abmeldung ja rückgängig machen.«
Er schmatzte kurz. »Wussten Sie, dass Kafka in Klosterneuburg in einer Lungenklinik war, am Ende? Gerade mal zehn Kilometer von hier.«
Ich betrachtete die nikotinbraune Kakteenuntertasse und schüttelte den Kopf. Mit dem Zeigefinger schob sich der Beamte die Mannerschnittenkrümel aus den Mundwinkeln in den Mund. Langsam öffnete er eine weitere Lade und holte ein Tipp-Ex-Fläschchen heraus.
»In Kierling lag er. Kennen Sie die Briefe an seinen Freund Klopstock?«
Er begann sehr konzentriert den Stempel Abgemeldet nach BRD zu übermalen. Mehrmals tunkte er den Pinsel in die weiße Flüssigkeit, bis der Stempel unsichtbar war.
»Seine Freundin Dora Diamant hat ihn begleitet. Tuberkulose. Sie schrieb, die Klinik sei entsetzlich und würde Kafkas Ende beschleunigen. Er lag mit zwei schrecklich leidenden Menschen Bett an Bett. Dora Diamant schrieb: Kehlkopf mit Apparaten.«
Er blies auf die frisch gepinselte Stelle. Ein, zwei Brösel fielen aus seinem Mund aufs Tipp-Ex.
»Jetzt müssen wir warten. Bis es ganz trocken ist.«
Zusammen warteten wir. Schweigend. Er kauend. Das leise Krachen der Mannerschnitten in seinem Mund war unsere Begleitmusik. Unvermittelt nahm er dann das Blatt, hielt es sich vor den Mund und rülpste. Wollte er das Tipp-Ex trockenrülpsen?
»Papagenogasse sind Sie daham? Daham is daham, da hab ich’s schön warm«, sagte er und drückte seinen Daumen auf die weiße Fläche. »Passt«, sagte er und zog einen blauen Plastikkugelschreiber aus seiner Hemdtasche. Fein säuberlich schrieb er in Kinderschrift etwas auf den Zettel, dann stempelte er vorsichtig auf die weggetippexte Stelle.
Er schob mir den Meldezettel rüber. Abgemeldet in die BRD stand dort. Das in die hatte er unterstrichen.
Sechs Jahre, dachte ich. Sechs Jahre einmal im Jahr hierherkommen. Als ich gesenkten Hauptes aus dem Zimmer trat, nickte der Bosnier mir zu. Er erkannte die verlorene Schlacht.
»Das Glück is a Vogerl«, sagte die Geschminkte. Als Österreich Jahre später in die EU eintrat, sang ich mit Kanzler und Vizekanzler die Internationale leise mit.
Unsere Bahn rumpelte über die Donau-
brücke. Von hier aus sah man die Überschwemmungen nördlich von Klosterneuburg. Seit dem Bau der Donauinsel, durch den mit der Neuen Donau ein äußerst wirksames Entlastungsgerinne entstanden ist, bleibt Wien als einzige Großstadt an der Donau von Hochwasser verschont. Im Rest des Landes herrscht hingegen regelmäßig Naturchaos. Die Donau ist dort häufiger außerhalb ihres Flussbetts als darin.
»Die Donau ist sehr alt und leidet unter seniler Bettflucht«, vermutete Robert, »und ihr nächtlicher Harndrang sorgt für Überschwemmungen.«
In Kritzendorf bei Wien steht eine Siedlung von Stelzenhäusern, direkt an der Donau, am Strombad. Die gesamte Anlage gehört dem Stift Klosterneuburg, dem größten Grundbesitzer der Umgebung.
»Wenn man bedenkt, dass Jesus aus der Wüste kam, fast nackt war und beinahe nicht mal einen Stall gefunden hat, um geboren zu werden, ist es schon erstaunlich, wie viel Immobilienbesitz die katholische Kirche heute hat, im ganzen Land«, meinte Robert.
»Falls Jesus jemals wiedergeboren wird, ist auf jeden Fall ein Stall vorhanden«, ergänzte ich.
Auch in Kritzendorf tritt mehrmals im Jahr die Donau übers Ufer. Für die Kritzendorfer ist es Alltag, in Gummistiefeln
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