Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
kleines Haus am Bodensee. Morgens kamen Schwäne zu ihm in den Garten, Samtenten und Ohrentaucher, Regenbogenartige glotzten ihn an und Bergpieper. Ein Fischer, Freund der Familie Gütli, brachte ihm am Abend frische Bodenseefelchen oder noch zappelnde Brachsen und Groppen, Schleie und Kretzer und einmal sogar einen im Bodensee längst ausgestorben geglaubten Bodensee-Kilch. Der Fischer bereitete ihm die Fische sogar zu, damit der Herr Schriftsteller sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Dann blieb der Mann, dessen Namen Frank nicht verstehen konnte, am Herd stehen, bis er aufgegessen hatte, und fragte: »Isch guat gsi?«
»Ja, es ist sehr gut gewesen, vielen Dank«, antwortete Frank höflich und mit immer schlechterem Gewissen.
Der Fischer tippte zufrieden an seine Mütze, sagte »Nabig« und verschwand in die Dunkelheit. »Nabig«, also »’n Abend«.
Frank verstand immer »Narbig«. Er glaubte, das hieße so viel wie »krass« – etwas ist so arg, dass es vernarbt ist. »Ja, das ist narbig«, rief er dem Fischer nach. Als ich Monate später den pickeligen Hartmut abends in der U-Bahn traf, grüßte ich ihn mit einem lauten »Nabig, Hartmut!«. Er bezog es natürlich auf sein Fortunakinn, errötete und fauchte mich an: »Was soll der Scheiß? Mich hier öffentlich an den dermatologischen Pranger zu stellen. Das ist echt gschissen von dir.«
»Bitte? Hartmut. Was ist los mit dir? Ich hab dich ganz normal begrüßt!«
»Grüßt du Leute immer, indem du sie auf ihre Mängel hinweist?« Er blickte sich um. Neben uns kniete ein verkrüppelter Rumäne auf einem Brett mit Rollen. Er deutete mit dem Kopf auf den armen Mann. »Begrüßt du den auch mit ›Bein weg‹?«
»Hartmut, ich habe ›Nabig‹ gesagt, nicht ›narbig‹. Nabig, guten Abend, das ist alemannisch, so sprechen viele Leute in deiner Wahlheimat. Du kennst ›Nabig‹ nicht? Das enttäuscht mich. Schreib’s in dein Vokabelheft.«
Der Rumäne rollte mit seinem Holzwagerl durch den Waggon und hielt eine Konservendose in der Hand. Ich warf ihm 50 Cent hinein, Hartmut blickte grimmig über den Beinlosen hinweg. Ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift Fit für Athen trug, begann zu singen:
Wenn ich mal trüber Laune bin,
dann geh ich zu den Blinden
Und lache mir den Buckel voll,
wenn sie die Tür nicht finden.
Dann geh ich zu den Lahmen auch,
wohl in ein dunkles Gangerl,
schnall ihnen die Prothesen ab
und spiel mit ihnen Fangerl.
Der Rumäne kniete mit der Dose in der Hand vor dem lachenden Wiener. »Schauts, wie es ihm gfallt, das Krüppellied! Gell, das gfallt dir? Und jetzt der Refrain!« Er begann wieder zu singen.
Krüppel ham so was Rührendes,
Krüppel ham was Verführendes,
wenn ich so einen Krüppel seh,
wird mir ums goldne Wiener Herz so warm und weh.
»Sie san echt im Oasch daham«, sagte ich zu dem Mann, der schon bei den Olympischen Spielen in Athen nicht mitmachen durfte, weil er Charakteraids hat, da war ich mir sicher. »Nabig«, rief ich Hartmut zu und stieg aus.
Zwei Wochen blieb Frank am Bodensee, besuchte die Schirmfabrik in Bregenz, besichtigte Lustenau und Rankweil, Dornbirn und Bludenz, dann nahm er den Nachtzug nach Wien.
»Und?«, fragte ich, als ich ihn vom Bahnhof abholte.
»Alles bestens«, sagte er, und ich wusste, dass Katharina sich einen neuen Ort überlegen musste.
»Vielleicht sollte er besser einen Touristenführer schreiben. Meine schönsten Ferienorte. Österreich – ein Herbstmärchen «, schlug Robert vor, als Frank von einem weiteren Versuch in der Steiermark erzählte, wo er auf einem Feld aus Verzweiflung auf einen reifen Kürbis eingeschlagen hatte, ähnlich wie der Perserkönig Xerxes, der das Meer auspeitschen ließ, weil seine Truppen an den Dardanellen aufgehalten wurden. Ein mit Schilcher abgefüllter Herr mit Regenschirm klatschte Beifall.
»Ein Jubelperser?«, fragte ich.
»Nein. Einer aus Stainz, dem Ort, an dem mir nichts einfiel. Er gehört dort zum Kulturverein, Stain-Zeit. Hat mir alles gezeigt, dachte, er müsste dem Mann vom Liechtensteiner Verlag seinen Schreibaufenthalt angenehm gestalten. Hatte unglaublich verknorpelte Blumenkohlohren, wie ein Ringer. Hat aber nie gerungen. Der Arzt hat ihn bei seiner Geburt an den Ohren rausgezogen.«
»Ein schlechter Arzt«, warf ich ein.
»Nein, ganz im Gegenteil. Der beste Arzt der Weststeiermark. Eine Legende. Der Wunderdoktor Höllerhansl. Konnte aus dem Urin Krankheiten erkennen. Du gabst ihm deine Pisse, er betrachtete
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