Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
sie, schüttelte sie, dann kam die Diagnose. Deshalb reisten viele Kranke mit einem Flascherl Urin an. Der Zug nach Stainz heißt heute noch Flascherlzug.«
Frank hatte ein Zimmer am Marktplatz bezogen. Er wird von Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert umschlossen, in der Mitte befindet sich eine kleine Grünanlage mit Mariensäule. Betrunken von zu viel Schilcher, hatte Frank sich nachts, polternd und laut schimpfend, in die Grünanlage übergeben. Die Ruhe der Marktgemeinde war dahin und auch sein Ruf im sanften Hügelland zwischen Stainz und Deutschlandsberg, das auf der zweiten Silbe betont wird, also Deutsch lands berg, um sich von Deutschland abzugrenzen und seinen Bewohnern, die auf Mariensäulen speiben. Die grüne Mark, das grüne Herz Österreichs – Frank hat es in nebliger Erinnerung. Er kann sich noch daran erinnern, dass er auf den Kürbis eindrosch, so fest, dass die Kürbiskerne nur so durch die Gegend spritzten und fortan weder zur Prostatastärkung noch zur Herstellung des steirischen Golds taugten. Dies alles, weil die Solidarität sich nicht einstellte und die vielen Gläser Schilcherwein ihn nicht inspirierten.
Der Herr vom Kulturverein versuchte ihn zu beruhigen, während sie gemeinsam in den Ort zurückwankten. »Vergessens die EU. Der Schilcherwein ist viel älter als die depperte EU. Wissens, was unsolidarisch ist? Wir exportieren den Schilcher nicht, weil wir ihn selber saufen. So schaut’s aus. Darum kennt kein Schwein in Europa den Schilcher, und wir können ihn selber schnabulieren. Wir verdienen weniger, aber haben keinen Durst. Gscheit und nicht gscheit in einem, wie das Trinken selbst. Machen Sie sich nichts draus«, bellte er in seinem weststeirischen Dialekt. Dann griff er in die Erde und redete über den »Sound.«
»Den Sound? Von den Kürbissen?«, fragte ich.
»Den Sound. Er meinte den Sand«, sagte Frank, »sprach es aber aus wie ›Sound‹. Und du darfst nicht vergessen, ich war wütend und betrunken. Es heißt eh, Schilcher macht rabiat. Deshalb nennt man ihn auch ›Rabiatperle‹. Zwei Flaschen Schilcher habe ich getrunken und vorher einen Liter Schilchersturm, so eine trübe, süße Federweißer-Brühe. Dazu gebratene Kastanien und Schilchersekt, sicher zwei Flaschen. Ich war völlig am ›Sound‹. Der Mann plapperte wirres Zeug von dreilappigen Blättern, unten behaart und mit weiß-wolligen Triebspitzen, die ganze Zeit, bis wir am Marktplatz anlangten. Ein netter Mann, klar, aber als er von der zwiebelfarbenen und rubinroten Farbe sprach, wurde mir kotzübel. Ich hab versucht, an der Säule vorbeizugöbeln, aber es traf Maria mit voller Wucht. Ich bin in aller Herrgottsfrühe abgefahren. Wunderschöne Gegend, für die ich zu hässlich bin.«
»Ich glaube, du solltest den Verlag anrufen und denen absagen. Dieses Buch steht unter keinem guten Stern«, sagte ich.
Robert nickte, aber Frank erwiderte trotzig: »Wenn ich nicht wäre, wüsstet ihr zwei doch gar nichts über dieses Land. Wann kommt ihr schon mal raus aus Wien? Dankbar müsst ihr mir sein. Das ist Solidarität. Ich fahr für euch durch dieses Land. Land der Dome, Land der Äcker, Land am Strome. Wunderschönes Land.«
So kam ’s Gütli aufs Strombad Kritzendorf. In der Zwischenkriegszeit war Kritzendorf ein mondänes Bad. Im Strandpavillon spielten die Wiener Symphoniker, berühmte Künstler besuchten Kritzendorf oder kauften sich kleine Häuschen in »Kritz-les-Bains«, wie man es scherzhaft nannte. Aber auch »Gelsenstadt« oder »Kratzendorf«, weil die Donau auch bei Mücken ein beliebter Ausflugsort ist. »Komm mit mir nach Kritzendorf, wo jeder mit mir schwitzen dorf«, sangen die Leute.
Berühmt war Kritzendorf für den Ribiselwein, den Johannisbeerwein. »Meertrübeli« nennt ’s Gütli die Ribiseln. Mein früh verstorbener Cousin Ralph kannte sie, wie alle Schwaben, unter dem Sammelbegriff »Träuble«. Er war als Jugendlicher bei einer Bergwanderung in Tirol abgestürzt und hatte sich den gebrochenen Arm selber geschient. Allein versuchte er dann ins Tal zu gelangen. Die Bergrettung, die ihn später fand, hat seinen Abstieg rekonstruiert. Er war offenbar noch einmal abgestürzt und hatte sich dabei auch noch ein Bein gebrochen. Trotzdem kämpfte er sich weiter und gelangte tatsächlich bis ins Tal, wo ihn in einem fünfzig Zentimeter tiefen Bach die Kräfte verließen. Er ertrank. Meine schwäbischen Verwandten hatten ihm aus Kostengründen verboten, einen Bergführer zu mieten. Der
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