Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
hätte ihn aus dem Wasser ziehen können.
Frank bezog ein 25 Quadratmeter großes Stelzenhaus in zweiter Reihe. Die Donau konnte er nicht sehen, dafür aber das Bett seines Nachbarn, der im Sitzen schlief – im Schneidersitz, wie ein niederösterreichischer Fakir. Hohe, klare Pfeiftöne gab er im Schlaf von sich. So nah war das Nachbarhaus, dass Frank sogar den Lufthauch des Pfiffs zu spüren glaubte. Wie in jeder Puppenstadt ist es auch im Stelzendorf Kritzendorf so eng, dass keine zwei Blatt Papier zwischen die meisten Häuser passen. Aber immerhin haben die Häuser einen kleinen Grund vor oder hinter dem Haus.
Frank zog Mitte September ein. Die Badesaison im Strombad ging dem Ende zu, die Hitze des Sommers war noch im Holz des Hauses zu spüren, die Gelsen hatten sich fest eingenistet und ihre Lieblingsplätze längst gefunden. Franks Haus war in diesem Sommer zu einer Art Versammlungshaus für Mücken geworden. Hier fühlten sie sich wohl, und jeder Tierfreund sollte sich freuen, wenn es unseren zweiflügeligen Freunden gut geht. Auch Frank, denn schließlich ging es ihm ja um kosmopolitische Solidarität. Über Grenzen, Rassen und Spezieszugehörigkeiten hinaus.
»Mücken kennen das Schengener Abkommen nicht und auch nicht die Lissabonner Verträge«, schrieb Frank, nachdem er sich mehrere Tage lang durch heftiges Kratzen akklimatisiert hatte. Immerhin ein Satz. Ein sicherer Streichsatz zwar, aber er hatte das Gefühl, endlich im Thema angekommen zu sein.
Er blickte aus seinem Holzfenster und lauschte dem Regen, der zusammen mit dem Pfeifen des Nachbarn wie ein Stück von John Cage klang. »Rain and whistle, Part one«, sagte Frank in sein Handymikrophon, mit dem er beides aufnahm. In diesem Moment krachte ein Blitz über Kritzendorf, es wurde sehr hell. Er sah, wie der im Bett sitzende Nachbar kurz die Augen öffnete, sie wieder schloss und weiterschlief. Gesegnet sind die im Sitzen Schlafenden, dachte sich Frank und hörte sich seine Handyaufnahme an. Regen, Pfeifen und Blitzschlag. Die Symphonie hatte sich von Cage zu Wagner verändert.
»Würden Mücken zur Europawahl gehen beziehungsweise fliegen, wenn sie wahlberechtigt wären? Sie würden fordern, dass alle Europäer ihr Blut mit ihnen teilen, zu einem Prozentsatz, den die EU-Mückenkommission festlegte. Denn was ist Europa anderes als eine Solidargemeinschaft? Wo das kleine Österreich dem noch kleineren Liechtenstein alle seine Mücken überlässt und dafür 5000 Franken bekommt.«
Die Buchstaben flackerten auf dem Bildschirm. Frank löschte alles bisher Geschriebene und dann das Licht. Mit offenen Augen lag er in seinem Zwergenhaus und hörte den Regen aufs Holzdach prasseln. Ich sollte kurze Sätze schreiben, dachte er – ich wohne in einem kleinen Land. In Österreich sollte man am besten nur kurze Sätze schreiben, besonders dann, wenn man für einen Liechtensteiner Verlag schreibt. Sätze, wie Marlene Streeruwitz sie formuliert: »Ich. Gehe. Jetzt.« Solche Sätze kommen aus kleinen Ländern.
In Flächenstaaten wie Kanada oder Australien kann man Schachtelsätze bilden, aber in Österreich nicht.
Ihm fiel ein, dass Tatjana, die Prinzessin aus dem Zwergenreich, sehr schnell simste, wenn man sich verspätete. Schon wenige Sekunden nach der vereinbarten Zeit schickte sie ein »?«. Das schien die These zu bestätigen: kleine Länder – kurze Sätze; noch kleinere Länder – nur mehr einzelne Buchstaben oder Satzzeichen.
Er stand wieder auf und versuchte sich erneut an seinem traurigen Laptop. »Solidarität. Jetzt. Heute. Morgen. Ausblicke.« Vielleicht könnte er ja doch die Mücken wieder einbauen, in kurzen, knappen Sätzen.
Da klopfte es heftig an seiner Tür – mitten in seiner kreativsten Phase, jetzt, wo es gerade so gut lief, wurde er aus dem Schöpferischen gerissen! Er öffnete die Tür. Prasselnder Regen schlug ihm ins Gesicht. Vor ihm stand, in kurzen Hosen und Gummistiefeln, der Sitzschläfer von nebenan, eine Schaufel in der Hand.
»Da, nehmen Sie die Schaufel. Wir müssen den Kanal freiräumen. Die Donau ist übergetreten, wir müssen den Schlamm wegschaufeln, sonst ist der morgen hart wie Beton! Die Feuerwehr ist auch schon da und pumpt. Wir brauchen jeden Mann«, rief der Sitzschläfer Sätze, die Frank nur aus dem Kino kannte.
»Na ja, ich weiß nicht. Ich schreibe gerade, das ist jetzt eher ungünstig. Außerdem, ich bin ja hier nur Mieter …«, versuchte Frank höflich, aber bestimmt einen Arbeitseinsatz im
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