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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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Derrick schreiben und deine Solidarität zu mir.«
    »Du kannst den Hund hier nicht liegen lassen, Spön.«
    »Weiß ich selber, du Besserwessi! Ich bin ja nicht meschugge.«
    Da war ich mir nicht so sicher. Ich erinnerte mich daran, wie Spön mich einmal verzweifelt angerufen hatte, als er mit Heidis Auto einen Reifenschaden hatte.
    »Ich steh hier irgendwo in Transdanubien, ich hab so was noch nie gemacht!«, brüllte er ins Telefon.
    »Nur weil du auf der anderen Donauseite bist, musst du nicht so schreien.« Ein hysterischer Architekt am Straßenrand war kein angenehmer Gesprächspartner. »Hast du einen Reservereifen? Gut, jetzt musst du den kaputten Reifen mit dem Schraubenschlüssel gegen den Uhrzeigersinn abschrauben«, dirigierte ich ihn.
    »Wie denn?«, schrie er. »Ich hab keine Uhr. Wie soll ich das denn machen – gegen den Uhrzeigersinn?!«
    Irgendwo hatte ich gelesen, dass der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace genau das Gleiche zu seinem Vater am Telefon gesagt haben soll. Foster brachte sich später um. Auf Spön musste ich aufpassen. Zum Glück fand sich schließlich eine Fußgängerin mit Damenuhr am Handgelenk, die bereit war, sich neben ihn und den Reifen zu knien. So gelang ihm doch noch der Reifenwechsel. Mich am Ohr, die Uhr im Blick.
    Nun standen wir hier und blickten immer noch andächtig auf den toten Derrick.
    »Möchtest du auch zum Essen kommen?«, fragte ich.
    »Nein, lass nur«, murmelte Spön unwillig. »Ich muss mir überlegen, wie ich das Ganze Heidi erklär. Wie sagt man so etwas? Sie hat den Hund wirklich gerngehabt.«
    Ich blickte auf den ausgebrochenen Fensterstock, der Derricks Schicksal war. Der Wind blies herein.
    Ich verließ Spön und nahm die U3 von der Schweglerstraße zur Neubaugasse. Obwohl es bereits früher Abend war, befand sich eine Kindergartengruppe in meinem Waggon, zusammen mit zwei Tanten. Sie waren auf dem Rückweg von einem Tagesausflug. Alle trugen die gleichen gelben Schirmmützen auf dem Kopf und kleine Rucksäcke
auf dem Rücken. Entzückend waren sie, aber auch irritierend, denn sie sangen inbrünstig die Ode an die Freude , allerdings nicht mit Schillers Text, sondern mit dem von Kurt Sowinetz: »Alle Menschen samma zwider, i mechts in die Goschn haun«, schmetterten die Drei- und Vierjährigen. »Mir san alle Menschen zwider, in die Goschn mecht i’s haun. Voda, Muada, Schwester, Bruada und de ganze Packlrass. Alle Menschen samma zwider, wann i Leit sich, geh i haaß.«
    Mir wurde es zu viel. Lou, dem sie das Gesicht zerschlagen hatten, der furzende Taxifahrer, der Hund, der aus dem Fenster gefallen war, und jetzt die zynischen Kleinkinder. Ich sehnte mich nach dem Gefühl, das die Wien-Werbung versprach: Kaffeehaus, Sisi, Schloss Schönbrunn und als größte Aufregung das Riesenrad, das sich im Zeitlupentempo bewegte. »Im Prater blühn wieder die Bäume, in Sievering grünt schon der Wein, da kommen die seligen Träume, es muss wieder Frühlingszeit sein.« Das hätte ich jetzt gern gehört. Eine Veroperettierung der Wirklichkeit, wie es die Wien-Werbung seit Jahrzehnten versprach. Stattdessen trat ein Knirps auf mich zu und sagte: »Gell, wenn ich sterb, dann kommen die Würmer und fressen mich auf, stimmt’s? Die Leichenwürmer nennt man die, gell?« Dann lachte der Bub und klatschte in die Hände.
    »Er hat heute Geburtstag«, sagte eine der beiden Tanten. »Drei ist er geworden. Kommt, Kinder, bevor wir alle aussteigen, singen wir dem Murat noch einmal ein Geburtstagslied.«
    »Hoch soll er leben, hoch soll er leben, an der Decke kleben, runterfallen, Popschi knallen, ja so ist das Leben!«
    Ich stieg aus und ging durch die Stiegenpassage zur Stiegengasse. Vor dem Fiaker-&-Gespanne-Stall, wo es immer nach Pferd riecht, stand der Mann in den Nicki-Hotpants. Als er mich sah, wurde er schmallippig, machte ein abfälliges Geräusch durch die Nase und drehte sich um. Sein Terrier sah mich feindselig an.
    In der Kettenbrückengasse hörte ich schon von weitem die Wie-spät-ist-es-Frau.
    »Viertel nach sieben«, rief ich zu ihr hinauf.
    »Bitte?«
    »Viertel nach sieben, fast zwanzig nach. Es ist genau 19 Uhr, 18 Minuten und, Moment, 25 Sekunden.« Ich schloss die Haustür auf und holte Luft.
    »Es gibt Ärgeres, als über Brillen zu parlieren«, sagte Rocco und nahm einen tiefen Zug aus seiner Kim . Inzwischen war es Abend, und wir saßen allesamt, wenn auch ohne Spön, in unserer bratenduft- und qualmgeschwängerten

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