Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
Wohnung.
Rocco war der einzige mir bekannte heterosexuelle Mann, der eine Damenzigarette rauchte. Ich hatte ihn in der »Goldenen Glocke« kennengelernt. Wir saßen uns dort an zwei Tischen gegenüber und schlürften beide die Milzschöberl-Suppe des Mittagsmenüs. Während ich noch an der Milz zu kauen hatte, wurde er schon fertig und öffnete eine weiße Zigarettenpackung. Wellen in Orange und Zinnoberrot füllten das untere Drittel der Packung. In kleinen schwarzen Buchstaben las ich Kim . Der i-Punkt war auch zinnoberrot. Slim Size stand in geschwungener Schreibschrift darüber. Die bleistiftdicke Zigarette, die er sich in den Mund steckte, war nicht viel dicker als die Schrift.
»Haben Sie Feuer?«, fragte er mich in einem Ossi-Dialekt.
»Ich rauche nicht«, antwortete ich.
»Zündholzer?«, bot sich der Kellner an. Das Streichholz, mit dem er die Zigarette anzündete, hatte fast den gleichen Umfang wie die Kim.
So hatten wir uns kennengelernt. Roccos Pech war, dass er schon vor dem Fall der Mauer von einer Tante aus dem Westen regelmäßig Kim-Stangen zugeschickt bekam nach Apfelstädt in Thüringen. Er hielt Kim für cool, weil sie bunt waren und niemand in Apfelstädt solche Zigaretten rauchte. Nach der Wende merkte er schnell, dass es für einen Mann sehr ungewöhnlich war, schlanke Damenzigaretten zu rauchen. Aber seine Lunge und seine Geschmacksknospen hatten sich entschieden. Männerzigaretten ließen ihn husten, für Camel oder Marlboro war er daher verloren. Manchmal rauchte er die zahnstocherdicken Slim, dann sah er aus wie die Witwe von Rudolf Moshammer.
Wie viele Kinder in der DDR hatte Rocco einen Vornamen bekommen, der die fehlende Reisefreiheit ausgleichen sollte. Seine Schwester hieß Kathleen, seine Brüder hörten auf die Namen Maik und Ronny. Rocco hatte in Ostberlin Geschichte studiert und dann in Westberlin noch mal, weil jede Geschichte zwei Kehrseiten hat. Die Mauer hatte auf der einen Seite eine völlig andere Bedeutung als auf der anderen, obwohl sie rechts und links aus ein und demselben Material gebaut war, und wer gerade noch Klassenfeind war, wurde, hast du nicht gesehen, andernorts ein Klassetyp.
Das Land, aus dem ich vor dem Mauerfall gekommen war, gab es seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Es war größer geworden, bekam eine neue Hauptstadt, neue Telefonzellen, in denen man nicht mehr mit Münzen bezahlen konnte, neue Fußballspieler, neue Strände an der Ostsee und neue Postleitzahlen.
1990 stand ich kopfschüttelnd vor der deutschen Fahne, die Bürgermeister Helmut Zilk am Tag der Deutschen Einheit auf dem Wiener Rathaus hissen ließ, und drängelte mich durch die Schlangen der DDR-Bürger vor den österreichischen Banken, die über Ungarn ausgereist waren und die 100 Mark Begrüßungsgeld einforderten, in leichter Verkennung der äußeren Grenzen der BRD und der D-Mark, um danach wie Heuschrecken über den Naschmarkt herzufallen und in biblischem Ausmaß Bananenmassen wegzukaufen. In meiner Wohnung in der Papagenogasse hing damals das Titanic -Poster mit der Überschrift Zonen-Gabi: meine erste Banane – eine rothaarige Frau hält eine Gurke in der Hand, die sie so geschält hat, wie man Bananen schält.
Rocco kümmerte sich von vornherein weniger um Bananen, sondern forschte an der Uni, jetzt endlich seinem italienischen Namen entsprechen dürfend, über römische Kolonien in Latium. Als er Mitte der 90er mit dem Studium fertig war, stellte er resümierend fest, dass es keine römischen Kolonien in Latium gab und nie gegeben hatte und der Bedarf an Menschen, die das Fehlen der Kolonien wissenschaftlich belegen konnten, überschaubar war.
Enttäuscht zog Rocco nach Jena, wo er in der Nähe des Bahnhofs Jena-Paradies eine günstige Wohnung fand und eine schlecht bezahlte Stellung im Optischen Museum. Er machte Führungen zur Geschichte der Sehhilfe, in der Optischen Werkstatt von Carl Zeiss und dem Glastechnischen Laboratorium von Ernst Abbe und Otto Schott.
»Aber du hast doch überhaupt keine Ahnung von Optik gehabt«, wunderte ich mich, als er bei Tisch davon erzählte. »Was haben denn Brillen mit römischer Geschichte zu tun?«
»Erstens: Für so wenig Gehalt konnte man nicht erwarten, dass ich weiß, wovon ich bei den Führungen red. Zweitens wurde die Brille im 13. Jahrhundert in Italien erfunden. Gut, das ist jetzt nicht mehr alte Geschichte, und sie wurde auch nicht in Rom oder Latium, sondern in der Toskana erfunden, aber wenn du so willst, bin ich
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