Sechseckwelt 02 - Exil Sechseck-Welt
Illusion bis zu sechs Stunden hielt, war das einzig Wichtige.
Der Pullover war kein Problem, aber das Trikot erwies sich als ernsthaftes Problem. Es war nicht für einen Schweif geschaffen. Sie überlegte kurz, was sie tun sollte, dann entdeckte sie, daß das Kleidungsstück nicht nur gewaschen, sondern auch geändert worden war. Zur Änderung gehörte ein Loch, durch das der Schwanzknochen paßte und durch das man daher den dicken, drahtigen Schweif leicht schieben konnte.
Der gute alte Trelig, auf alles eingestellt, dachte sie ironisch.
Nur die Stiefel blieben ein Problem. Sie wollte sie nicht zurücklassen. Sie konnte sie aber nicht anziehen, bis sie das Hauptgebäude verlassen hatte. Es blieb nichts anderes übrig, als sie zu tragen.
Sie erschienen viel leichter, und sie überlegte kurz, ob man sich daran auch vergriffen haben mochte, vergewisserte sich aber in kurzer Zeit, daß das nicht der Fall gewesen war. Was konnte die Veränderung dann erklären? Plötzlich fielen ihr Obies Worte ein: Sie war um vieles kräftiger als vorher.
Sie verließ das Zimmer auf dieselbe Weise wie in der Nacht zuvor. Gesicht und Hände waren geschwärzt.
Sie holte ihre Pistole, die sich zu ihrer Erleichterung am alten Platz befand, steckte sie in das Halfter und schlüpfte hinaus. Der Sprint zum Ausgang fiel ihr leichter; sie war nicht sicher, ob sie nicht einen neuen Rekord aufgestellt hatte.
Sie benützte das zweite Saugkügelchen, nachdem sie zuerst die Stiefel hinuntergeworfen hatte. Sie unten anzuziehen, ließ sie mehr als nur körperlich größer werden; sie fühlte sich stärker und unbesiegbar.
Ihre Augen paßten sich allen Erfordernissen an, stellte sie fest. Sie sah ohne Rücksicht auf die Helligkeit perfekt und scharf. Sie sah die Dinge auch ein wenig anders; andere Farben, weit außerhalb des menschlichen Spektrums, verliehen allen Dingen ein neuartiges Aussehen. Auch die Schärfe und Auflösung machten sie staunen; bis Obie das Problem gelöst hatte, war ihr nicht klar gewesen, daß sie kurzsichtig zu werden begann.
Auch ihr Gehör hatte sich auffallend verbessert. Sie hörte Insekten im Gras und in den Bäumen und konnte sie unterscheiden. Sie konnte Gesprächsfetzen hören, von Leuten, die weit entfernt waren, ihre Stimmen und Bewegungen. Der Hintergrundlärm, zu dem mehr Ultra- und Unterschall-Laute gehörten als normal, störte, aber sie stellte fest, daß sie, wenn sie sich bemühte, einen Teil davon ausschalten konnte.
Sie huschte schnell und lautlos durch das Gelände, das ihr jetzt so vertraut war, als wäre sie hier geboren und aufgewachsen.
Sie hatte keinen Chronographen, der ihr die verbleibende Zeit gesagt hätte. An ihrem Gürtel gab es einen für sechzig Minuten, der sich einschalten ließ, aber sie verzichtete darauf. Sie war unterwegs, so schnell sie konnte; wenn sie es nicht schaffte, halfen ihr alle Chronometer der Welt nicht.
Sie erreichte das Aufseherquartier ohne Zwischenfall, aber hier würde es brenzlig werden. Zwei Aufseher würden Dienst haben, vier weitere einsatzbereit sein. Sie waren, ohne daß sie es ahnten, alle von Obie registriert worden, so daß Mavra sie alle erkannte, ihr Aussehen, ihre Stärken und Schwächen kannte.
Sie waren alle schwammsüchtig. Es gab drei Männer – zwei mit den körperlichen Eigenschaften überentwickelter Frauen, aber mit intakten Genitalien, und einen, den der Schwamm in einen gorillaähnlichen Muskelmann verwandelt hatte. Die anderen waren Frauen – drei mit vollkommen männlichen Attributen, außer an der Stelle, wo es zählte, die übrigen mit kraß übertriebenen weiblichen Merkmalen. Jene, die, wie Nikki, anders auf die Überdosis reagierten, wurden nicht für den Wachdienst eingesetzt.
Am Gebäude verriet Mavras neue Gehörschärfe, daß niemand am Eingang war. Mavra lief hinein, hinunter zur Wäschekammer und auch dort hinein. Obwohl sie den Code für den Aufzug jetzt kannte, beschloß sie, ihn nicht zu benützen, wenn es nicht sein mußte. Das Gebäude hatte drei Tiefetagen, jede zehn Meter hoch – diese Entfernung fiel also kaum ins Gewicht.
Mavra erforschte den übrigen Teil des Gebäudes. Zwei Wachen – die sie nicht kannte – befanden sich mit den Kameramonitoren in der Waffenkammer. Bis an die Zähne bewaffnet, würden sie schnell reagieren. Zwei andere schliefen im zweiten Stockwerk. Sie waren unbewaffnet, aber gefährlich genug, und wenn der Alarm ausgelöst wurde, konnte Mavra nicht feststellen, wo sie sich befinden würden.
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