Sechseckwelt 05 - Dämmerung auf der Sechseck-Welt
nicht mehr viel empfinden. Ich lebe eben schon zu lange. Viel zu lange.«
»Bitterkeit?« fragte Marquoz.
»Keine Bitterkeit. Ich bin nur müde. Sehr, sehr müde, Marquoz. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, unzählige Jahrhunderte hindurch Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert zu leben. Ich bin sehr, sehr dumm, Marquoz. Ich habe mir das selbst angetan. Ich habe das frei und unbehindert gewählt, ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur eine Sekunde lang zu zweifeln. Aber niemand, wirklich niemand kann sich die grauenhafte Einsamkeit vorstellen. Es ist einsam und langweilig. Rassen reifen nicht über Nacht; sie brauchen Jahrtausende dazu. Und du wartest und siehst, wie alle, die dir etwas bedeuten, alt und zu Staub werden, und die Menschheit rückt jedes Jahrhundert vielleicht einen Millimeter oder noch weniger vor. Schließlich stellst du fest, daß du aussteigen willst, stellst fest, daß du es nicht mehr aushältst – und du kannst nicht aufhören. Man sitzt in der Falle.«
»Zigeuner hat uns gesagt, Sie würden sich vielleicht umbringen, sobald Sie den Schacht repariert haben«, meinte Asam beunruhigt. »Offenbar liegt er nicht so weit daneben.«
Brazil lächelte bitter.
»Es kommt ganz darauf an, Asam. Das ist der einzige Ort, wo ich es überhaupt tun kann, aber es geht nicht, wenn nicht jemand da ist, der mich ablöst und die Verantwortung übernimmt.«
Der Dillianer packte Brazil plötzlich mit eisernem Griff.
»Nicht Mavra! Mavra werden Sie das nicht antun!« knurrte er.
Brazil langte hinauf und löste die Hände des zornigen Zentauren von seinen Schultern.
» Ich werde das keinem antun, Asam«, sagte er leise. »Ich könnte es gar nicht. Alles, was ich tun kann, ist, etwas zur Wahl stellen. Das ist alles, was jemand in seinem Leben bekommt – die Wahl. Ich bin in dem ganzen verdammten Universum der einzige, der in Wirklichkeit überhaupt keine Wahl hat.«
Darauf gab es nicht viel zu sagen, und Marquoz kam wieder auf das eigentliche Thema zurück.
»Wie soll diese irre Geschichte dann weitergehen?«
Brazil sah zu Asam hinauf und rieb sich ein wenig die Schulter.
»Haben Sie vielleicht eine von Ihren Zigarren dabei, Colonel? Diese miesen, billigen Zigaretten, die ich geraucht habe, um Ihnen vorzutäuschen, ich sei Zigeuner, machen mich fertig.«
Asam kramte in seinen Sachen, fand zwei Zigarren, warf ihm eine davon zu und steckte die andere in den Mund. Marquoz sah traurig zu, als sie die Zigarren anzündeten, und wünschte sich nichts sehnlicher, als mitrauchen zu können.
»Ich schnuppere bei euch mit«, sagte er dumpf.
Als sie es sich wieder bequem gemacht hatten, sprach Brazil weiter und erläuterte, wie die Dinge bis jetzt abgelaufen waren.
»Zwei Nächte später wird Zigeuner sich bewußt in meiner Form zeigen«, fuhr er fort. »Das wird sie zu der richtigen Schlußfolgerung führen, daß der, von dem sie wissen, der Echte ist. Und ich werde nach wie vor hier sein – sozusagen.«
Marquoz nickte.
»Ich glaube, ich verstehe. Zigeuner wird seine Kräfte gebrauchen, um augenblicklich hierherzukommen. Brazil wird in gewohnter Weise auftauchen – nur werden Sie fort sein. Man wird glauben, den Richtigen vor sich zu haben, und zupacken.«
Er nickte.
»Und ich werde einen Tag Vorsprung haben. Ich beabsichtige, morgen abend fortzugehen. Ein paar von den Agitar-Neuzugängen, die wir vor ein paar Tagen aufgenommen haben, sind nicht, was sie zu sein scheinen. Sie gehören zur Besatzung der ›Nautilus‹ und haben zwei von diesen Pegasussen – Pegasi? Ach, egal. Jedenfalls bin ich ungefähr von derselben Größe wie einer von ihnen, und sie können ohnehin die doppelte Last tragen. Wir stellen die Hälfte der Mannschaft. Zwei Eflik werden auf einem Transportmittel, das für diesen Zweck gebaut worden ist, Mavra mitführen. Keine Angst, Asam, wir haben es ausprobiert. Es ist völlig sicher, und die Eflik können das Gewicht spielend bewältigen, wenn wir nicht länger als zwei Stunden hintereinander fliegen.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte der Zentaur düster.
Brazil seufzte.
»Ich habe Ihnen doch erklärt , daß ich niemanden zu etwas zwingen würde. Sehen Sie mich nicht so an. Ich werde überhaupt nichts tun. Das hängt alles von Mavra selbst ab. Eigentlich ist das ihr Unternehmen.«
»Dann sollte sie lieber was anderes machen«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren herum.
Vor ihnen stand, ganz der alte, Zigeuner.
»Sie haben mich
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