Sechselauten
Natürlich hatte die Kantonspolizei diese Nummern. Viele prominente Leute fand man nirgends, und es gab sie trotzdem. Aber Fritz Junker, der Kollege, der das in einer halben Minute herausbekommen hätte, schlief bestimmt schon. Inzwischen war es ein Uhr morgens. Die Nacht des Böögs. Vielleicht lag Junker auch besoffen in einem Zunftsaal. Möglich gewesen wäre es, aber genützt hätte es auch nicht viel.
Eschenbach stand auf. Er ging ein paar Schritte, öffnete das Fenster. Feuchte, kühle Luft strömte ins Zimmer, der Kommissar streckte sich. Die Hektik war abgeklungen, Gott sei Dank. Und auch seine Zweifel hatten sich etwas gelegt. Geblieben war eine innere Unruhe. Eschenbach kannte dieses Gefühl.
Es ging ihm fast immer so, seit er Polizist war. Irgendwann kam der Moment, in dem er sich mit einem Fall zu identifizieren begann. Manchmal war es eine Ungereimtheit gleich am Anfang, die ihn packte. Andere Male vergingen Tage oder sogar Wochen, ohne dass ihn die Sache berührte. Der Kommissar konnte sich dieses Vibrieren von Geist und Sinnen nicht herbeireden, auch wenn er sich noch so bemühte. Es kam oder blieb aus, so überraschend wie die Windpocken.
Nun hatte es ihn gepackt.
Eschenbach schloss das Fenster wieder. Er musste raus, er wusste es. Er würde in die Wohnung der Toten fahren und nachsehen, wie die Frau gelebt hatte. Egal, welche Uhrzeit es war.
»Du hast einen Vogel«, sagte Walter von Matt, als Eschenbach ihn anrief. »Aber bitte, der Schlüsselbund, den wir bei
der Toten gefunden haben, er ist bei uns in der Zeughausstrasse.«
Die Räume der Kriminaltechnischen Abteilung lagen nur einen Steinwurf von Eschenbachs Büro entfernt. Die beiden Sicherheitsbeamten, die über das nächtliche Quartier wachten,standen mit dem Schlüssel am Eingang bereit, als Eschenbach dort eintraf. Von Matt hatte sie instruiert.
Alles wurde protokolliert, und eine Viertelstunde nach dem Telefonat mit von Matt hatte der Kommissar, was er brauchte.
Eschenbach nahm die Autobahn. Er erreichte die Ausfahrt nach Wädenswil in zwanzig Minuten, bog in die Zugerstrasse ein und gab sich in gemächlichem Tempo den weit geschwungenen Kurven hin, die hinunter ins Dorf führten. Der mit Lichtern gesäumte Zürichsee lag vor ihm wie eine Landepiste; ein herrlicher Ausblick, den der Kommissar mit zwei wüsten Remplern gegen den Bordstein büßte.
Einmal hielt er kurz an, schaute auf den Stadtplan, den er sich aus dem Internet ausgedruckt hatte, dann fuhr er weiter. Lange suchen musste er nicht. Sein Ziel war eine Seitenstraße in der Fußgängerzone. Der Kommissar fuhr auf einen kleinen Parkplatz, stellte den Wagen ab und stieg aus.
Alles war dunkel. Eschenbach suchte das Straßenschild. Türgass, das war’s. Der Weg war mit Pflastersteinen ausgelegt und führte auf eine kleine Anhöhe. Die Hausnummer, die er gesucht hatte, gehörte zu einem mächtigen Fachwerkbau. Erdgeschoss und zwei Etagen zählte Eschenbach. Drei Namen standen neben Klingelknöpfen am Eingang; Bischoff war der oberste. Der Kommissar drückte.
Nichts geschah.
Nachdem Eschenbach es ein zweites und drittes Mal probiert hatte, entfernte er sich von der Haustür und sah nach oben. Er war nicht sicher, ob im zweiten Stock, als er auf den Parkplatz eingebogen war, Licht gebrannt hatte. Es war nur so ein Gefühl. Er hätte darauf achten müssen. Plötzlich kam sich der Kommissar alt und trottelig vor.
Eine Kirchenuhr unterstrich seine Gedanken mit zwei kurzen Schlägen.
»Halb zwei«, murmelte Eschenbach. Er wog den Schlüsselbund, den er schon die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Ein kleiner silberner Bär hing daran und vier Schlüssel. Der zweite passte. Nachdem der Kommissar im Treppenhaus Licht gemacht hatte, war ihm wohler. Neben dem Eingang zur Parterrewohnung führte eine steile Holzstiege nach oben.
Das Licht erlosch.
Eschenbach stieg weiter die Treppe hoch. Oben angelangt, spürte er sein linkes Knie. Das erinnerte ihn daran, wie übel er gestürzt war; auf Inlineskates zwei Wochen zuvor. Dass seine Tochter zuerst gelacht, sich dann aber ernsthaft Sorgen um ihn gemacht hatte. Er biss die Zähne zusammen.
Er hatte den Schlüsselbund noch immer in der Hand – wahrscheinlich passte derselbe Schlüssel, der schon unten gepasst hatte. Der Kommissar suchte den Lichtschalter, da bemerkte er, dass die Wohnungstür einen Spaltbreit offen stand. Zweiundfünfzigjährige Frauen ließen ihre Wohnungstür nicht einfach offen, wenn sie zum
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