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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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nicht so ängstlich. Also konzentrierte sie sich auf den liegenden Körper, versuchte auszumachen, ob sich der Brustkorb hob und senkte.
    Sie gab sich einen Ruck und ging zum Telefon.
    Zum Glück hatte Charlotte alle Notrufnummern auf einem Zettel notiert. Lara wählte der Reihe nach Polizei- und Sanitätsdienst. Während sie sprach, ließ sie den Mann nicht aus den Augen.
    »Schließen Sie sich in ein Zimmer ein«, meinte der eine, der andere fragte: »Atmet er, blutet er, hat er Puls?« Und wenn sie einen Schock habe, empfahl er, solle sie sich hinlegen.
    Bei Charlotte gab es keine Türen. Ihre Schwester hatte alle aushängen und in den Keller stellen lassen. Außer in Bad und WC  – aber dort waren die Schlüssel abgezogen. Lara musste gar nichtnachsehen, sie wusste es. Charlotte hatte schon immer einen Vogel gehabt. Und wer wusste von sich selbst, ob er einen Schock hatte oder nicht.
    Lara zog den Klavierstuhl aus dem Wohnzimmer hinaus in den Flur und setzte sich. Die Bratpfanne in Griffnähe. Wo Charlotte nur war? Es entsprach gar nicht ihrer Art, nicht zu einer Verabredung zu kommen. Zum Glück hatte Lara gewusst, wo der Ersatzschlüssel versteckt war. Sie beobachtete den Mann aufmerksam, rückte etwas näher. An seinem Hals wölbte sich eine Ader. Lara konnte deutlich sehen, wie das Blut darin pochte. Er lebte also. Lara atmete auf.
    Minuten vergingen.
    Einmal stöhnte der Mann leise, doch Lara erschrak nicht. Es war seltsam. So verwundet und hilflos, wie er vor ihr lag, war ihre Angst verschwunden. Sie fragte sich, ob sie Mitleid empfand. Aber das war es nicht. Es war ein Gefühl von zurückgewonnener Dominanz. Sein Leben lag in ihrer Macht. Sie war die Stärkere.
    Plötzlich fiel ihr auf, dass er schöne Hände hatte.
    Dann endlich kam Hilfe.
    »Den haben Sie aber übel zugerichtet«, sagte der kleinere der beiden Sanitäter. Es war ein pausbäckiger, rundlicher Mann Mitte dreißig. Er kniete sich neben den Verletzten und sah Lara vorwurfsvoll an.
    »Ich bin hier das Opfer«, sagte Lara.
    »Ja, ja – ist schon recht«, sagte der andere. »Sind Sie denn auch verletzt?«
    Lara schüttelte den Kopf.
    »Na eben.« Pausbacke imitierte ihr Kopfschütteln. »Dann zeigen Sie meinem Kollegen, wo’s hier kaltes Wasser gibt. Der braucht was zum Trinken … ein Glas Wasser.«
    »Ihre schnoddrige Art passt mir nicht«, sagte Lara. Sie war es nicht gewohnt, dass man so mit ihr sprach. »Wasser gibt’s in der Küche.«
    »Dumme Tusse«, murmelte Pausbacke.
    Lara schwieg. Von einem Proleten des Sanitätsdienstes konnte man nicht mehr erwarten, dachte sie.
    Die Nächsten, die klingelten, waren zwei Polizisten. Als sie in der Wohnung eintrafen, versuchte der Verletzte gerade leise fluchend, sich aufzurichten, und tastete vorsichtig sein Gesicht ab. Sie stürzten zu ihm.
    Aber nicht in der Absicht, die Lara angenommen hatte. Kein Polizeigriff, keine Handschellen. »Um Gottes willen, geht’s?«, fragten sie freundlich und besorgt. Und: »Ist es schlimm?« – »Tut es weh?« Die Polizisten schienen den Mann zu kennen. Und dieser Proll von einem Samariter kniete mit dem Wasserglas in der Hand daneben, als läge Jesus auf dem Flurboden.
    Lara wollte gerade protestieren, da kam einer der Polizisten zu ihr.
    »Wohnen Sie hier«, knurrte er.
    Lara schüttelte den Kopf.
    »Ihren Ausweis bitte.«
    Auch er sprach in diesem herablassenden Tonfall mit ihr, der sie schon an dem Sanitäter genervt hatte. Lara schwieg, kochte aber inzwischen innerlich.
    »Ihren Ausweis, habe ich gesagt.«
    Lara biss sich auf die Unterlippe. »Ich hab Sie doch gerufen …«, sagte sie gereizt. »Der dort!« Sie machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. »Er hat mich überfallen … Verhaften Sie den!«
    »Ein Überfall also …« Der Polizist drehte den Kopf zu seinem Kollegen: »Hast du gehört, Sepp. Ein Überfall.«
    »Es war …« Der Mann am Boden sprach leise, aber trotzdem so, dass es alle hören konnten. »Es war ein Missverständnis.«
    Lara verschlug es die Sprache. »Shit!«, schrie sie. »Der Typ ist irre … kommt hier mit einer Knarre mitten in der Nacht vorbei. Und jetzt ist es ein Missverständnis. Verschwinden Sie! Haut endlich ab! Alle!«
    »Aber hallo! Jetzt ist aber fertig, Fräulein zart.«
    Lara hob die Hände und senkte sie wieder. »Ich möchte meinen Anwalt sprechen«, sagte sie leise.
    Der zweite Polizist eilte herbei, packte Lara von hinten grob an den Armen. Und es dauerte nicht lange, bis sie kaltes, hartes Metall

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