Sechselauten
getan … hat uns geholfen, in all den Jahren hat er sich für unsere Interessen eingesetzt.«
»Und Schweigegeld bezahlt«, sagte Eschenbach.
»Von der Wahrheit konnten wir schlecht leben«, erwiderte Josef düster, und Meret fügte hinzu: »Es ist der Preis dafür, dass ich seinen Namen nie genannt habe.«
»Ist er auch ein Jenischer?«, fragte Eschenbach.
Die Koleggers schwiegen.
»Und wie haben Sie ihn gefunden?«, hakte Eschenbach nach. »Ich nehme nicht an, dass er Sie die ganze Zeit über freiwillig unterstützt hat.«
Meret seufzte. »Es war Charlotte. Sie hat bei der FIFA mit Kronenberger zusammengearbeitet. Ich weiß nicht, wie sie herausgefunden hat, dass er ihr Vater ist. Aber sie hat auch mich gefunden. So gesehen, hat Charlotte uns alle wieder zusammengebracht.« Meret nahm die Papierserviette und schnäuzte sich. »Ich bin ja froh, dass es so herausgekommen ist. Manchmal kriegt man eine zweite Chance. Ein Geschenk, als wolle das Schicksal etwas gutmachen, was es vermasselt hat.« Sie sah zu ihrem Mann. »Nicht wahr, Josef? So war es doch. Das haben wir auch gesagt, als Charlotte zu uns gekommen ist mit dem Baby im Bauch.«
»Und der Vater des Kleinen?«, fragte Eschenbach. »Wissen Sie wirklich nicht, wer …«
»Nein!«, rief Josef Kolegger. »Das ist es ja. Ich schwöre es bei Gott …« Er hob die Hand. »Charlotte hat daraus eine Staatsaffäre gemacht.«
Rosa, die bisher schweigend zugehört hatte, schüttelte den Kopf. »Und die Zwillinge?«, fragte sie. »Weshalb sind die Mädchen denn nicht bei Ihnen geblieben?«
Eschenbach seufzte, denn er ahnte, was kommen würde. Nicht nur die Aufnahme von Laras Vater hatte ihn darauf gestoßen. Er war im Studium damals, als 1973 das Vorgehen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse allgemein publik wurde. Als angehender Jurist hatte er sich während einer Seminararbeit damit befasst. Und sie waren alle einhellig der Meinung gewesen: dasses sich bei der systematischen Verfolgung der Jenischen in der Schweiz um subjektive und objektive Tatbestände des Völkermords handelte. Was war daraus geworden?
»Natürlich konnte ich meine Mädchen nicht behalten«, sagte Meret. »Aber das wusste ich damals ja nicht … dieser versteckte Plan hinter allem. Ich habe wirklich geglaubt, ich dürfe mein Kinder großziehen. Ich hätte es ganz bestimmt gekonnt.«
Es hatte angefangen zu regnen. Die Wischblätter von Eschenbachs altem Volvo quietschten, und die Lichter der Straße spiegelten sich und tanzten auf der Scheibe.
Rosa saß am Steuer. Sie sah geradeaus auf den nächtlichen Verkehr und schwieg. Seit sie in Seebach losgefahren waren, hatte sie kein einziges Wort gesagt. Auch zu Eschenbach hinüber geschaut hatte sie nicht. Nur immer geradeaus.
Als sie in den Milchbucktunnel eintauchten und der Scheibenwischer kratzend und knatternd über die trocken gewordenen Scheiben fuhr, griff Eschenbach nach dem Hebel der Wischanlage.
»Lassen Sie das«, zischte Rosa.
Eschenbach hob die Schultern. Er kannte Rosa schon lange; die Geschichte ihrer Eltern, wie sie Anfang der sechziger Jahre aus Neapel in die Schweiz gekommen waren. Er wusste, dass ihr Vater im Tiefbauamt gewesen war und die Schweizer Straßen mitgeteert und die Mutter bei einer Zürcher Familie den Haushalt geführt hatte. Rosa war eine Seconda: hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Schweizer Pass und Schweizer Matura.
»Haben Sie das gewusst?«, fragte Rosa, als sie beim Limmatquai wegen einer Ampel halten mussten. Es klang verächtlich, so als wollte sie von dieser Schweiz, die sie offenbar nicht kannte, nichts wissen.
»Nicht in solchen Details.«
»Details nennen Sie das?« Rosa sah Eschenbach an. »Manhat diese Frau nicht nur gewaltsam von ihren Eltern getrennt, nein, man hat ihr später auch noch die eigenen Kinder weggenommen. Und immer noch nicht genug …«
Die Ampel wechselte auf Grün.
»Als sie wegen all dem übergeschnappt ist, und das ist ja völlig normal, da hat man sie ins Burghölzli gebracht, mit Pillen und Spritzen vollgepumpt und in eine Zwangsjacke gesteckt. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt in der Schweiz: Zwangsjacken! Und als sie sich nicht mehr wehrte … zugedröhnt mit Medikamenten«, Rosa schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad, »dann hat man ihr noch die Gebärmutter herausgenommen.«
Ein paar Autos hinter ihnen hupten.
»Porco dio!«, rief Rosa. »Die Gebärmutter! Einer jungen Frau von nicht einmal zwanzig Jahren. Was für
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