Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
nicht mein eigenes Blut, aber das spielt keine Rolle. Latscho bleibt bei Ihnen.«
    Der Kommissar kämpfte. Er hatte damals schon mit sich gerungen, im Tessin, im Auto, als sich dieses zerschundene Blauan ihm festgekrallt hatte. Er musste jetzt ausharren. Er war so nah dran.
    In diesem einen Moment spielte sich vor seinem inneren Auge alles noch einmal ab: das Sechseläuten. Er spürte den Körper von Charlotte unter sich. Wie er auf ihr draufhockte und wie sich das bisschen Leben unter ihm einfach davonmachte. Er sah die blauen Flecken unter Charlottes bleichen Brüsten, die ihm Salvisberg gezeigt hatte. Später, auf Fotos. Aber es hatte gereicht. Hämatome von verzweifelten Händen. Seinen Händen. Es war ein dunkleres Blau als jenes in Merets Augen. Und wie eine Kette aus Gliedern unheilvollen Elends sah er den Fall vor sich. Er würde ihn zu Ende bringen … ausharren und weitermachen. Ein Mulo – Geist oder Mensch, wer immer es war –, jemand hatte Charlotte auf dem Gewissen. Ihr Tod hatte einen Grund; und selbst wenn es die Hölle bedeutete, er würde diesen Grund finden.
    »Also gut«, sagte Meret nach einer Weile.
    Eschenbach schwitzte. Er hielt Meret noch immer bei der Schulter. Als die alte Frau ihre Hand auf die seine legte, zuckte er zusammen. »Hab ich Ihnen wehgetan?«, fragte er benommen.
    »Setzen wir uns an den Tisch. Wir werden Ihnen alles erzählen.«

4
    I ch war frühreif, und das wurde mir zum Verhängnis«, sagte Meret Kolegger. »Wir waren damals neun Mädchen, in Straßburg, im Heim zum guten Hirten. Ich war die Drittälteste. Das hatten wir untereinander so ausgemacht, denn ich wusste selbst nicht, wann und wo ich geboren worden war. Sofia, meine Freundin im Heim, war etwas größer als ich. Aber weil meine Brüste schon entwickelt waren, beschlossen wir, dass ich genau ein Jahr älter war als sie. Und die Geburtstage feierten wir gemeinsam.
    Die Nonnen, die sich um uns kümmerten, waren gläubig und streng. Das war gut so. Wenn ich heute zurückblicke, muss ich sagen, es war das Beste, das uns hätte passieren können. Doch dann hat man das Heim geschlossen. Ich war nach Sofias Rechnung gerade sechzehn geworden, da wurden wir zurück in die Schweiz gebracht. Am Abend kamen Männer. Sie fuhren uns mit einem Laster an die Grenze bei Basel. Irgendwo in der Nähe von Flüh verfrachtete man die meisten von uns in Privatfahrzeuge. Die Kleinste, Sara, sie war fünf oder sechs damals … Jedenfalls hat sie die ganze Zeit geweint. Ich weiß nicht, wo man sie hingebracht hat. Sofia hat sie getröstet … hat aber auch geweint, weil man uns getrennt hat …«
    Meret machte eine Pause, trank ein paar Schluck Wein und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.
    Eschenbach sah zu Rosa. Sie saß wie versteinert da.
    Josef Kolegger schenkte Wein nach.
    »Die drei ältesten Mädchen, zu denen ich dummerweise ja auch gehörte«, sagte Meret und wischte sich abermals den Mund. »Wir wurden erst am nächsten Morgen abgeholt. Wir hatten eine Nacht lang darüber gerätselt, in welches Heim man uns wohl bringen würde. Vielleicht wäre ich damals schon geflüchtet, wenn ich’s gewusst hätte …«
    Es folgten zwei Schluck Rotwein und dann der Name »Bellechasse«.
    Josef Kolegger sah, wie seine Frau mit den Worten rang. »Ins Frauengefängnis Bellechasse«, sagte er mit fester, leicht empörter Stimme. »Man hat ein vierzehnjähriges Mädchen nach Bellechasse gesteckt.«
    »Ich habe älter ausgesehen«, sagte Meret wieder etwas gefasst.
    »Jedenfalls minderjährig.«
    »Es war kein schöner Ort, nein … Ich musste weg dort. Aber es war ein Gefängnis, das war nicht so einfach wie bei einem Heim. Da hab ich mich halt schwängern lassen. Das war nicht so schwer, als junges Mädchen … Sie können sich das sicher vorstellen.«
    Eschenbach nickte. Er konnte es sich nicht vorstellen.
    »Natürlich haben sie’s gemerkt. Es waren Zwillinge, ich durfte sie gebären. Zwei Mädchen, süße kleine Geschöpfe. Ich nannte sie Saba und …« An dieser Stelle zögerte Meret.
    »Charlotte«, sagte Eschenbach. »Charlotte war Ihre Tochter, ist es nicht so?«
    Meret nickte, und ihre Augen glänzten. »Deshalb sind Sie doch nochmals gekommen, nicht wahr? Sie haben es gespürt, schon als wir uns zum ersten Mal unterhalten haben.«
    Eschenbach senkte seinen Blick. »Und der Vater ist Kronenberger, nehme ich an.«
    »Sie dürfen Sandro nicht in die Sache hineinziehen«, meldete sich nun Josef Kolegger. »Er hat Buße

Weitere Kostenlose Bücher